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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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aufgeschlagen hast. Es wäre mir doch als allzu bittere Ironie erschienen, wenn du – oder besser gesagt, jemand anderes – anfangen würdest, mich zu lesen, nachdem alles bereits vorbei ist, und die Möglichkeiten, auf das Schicksal einzuwirken, verloren gegangen sind.
    So, das war’s, was ich eingangs zu sagen hatte. Mach jetzt eine Pause. Geh ins Bad und mach dich frisch. Sicher ist dir übel. Bürste deine Zähne noch einmal, ich weiß, dass du das magst. Wenn du anschließend nackt ins Bett kriechen willst und nicht in diesem albernen Nachthemd, von mir aus gern.Also, leg mich auf den Nachttisch. Jetzt kommt eine Leerzeile, ich warte auf dich, ich warte auf dich.
    Sie schloss die Augen, öffnete sie aber gleich wieder, als sie spürte, wie das Zimmer sich zu drehen begann. Legte ein Lesezeichen zwischen die Seiten, schloss das Buch und platzierte es auf dem Nachttisch. Die Übelkeit stieg schnell auf; mit letzter Kraft schaffte sie es aus dem Bett und wankte auf unsicheren Beinen zum Bad. Ließ sich vor der Toilettenschüssel auf die Knie fallen und erbrach alles, was sie in diesem teuren Restaurant gegessen hatte – sie hatte bereits vergessen, wie es hieß.
    Würgen und Krämpfe. Dessert, Hauptgericht, Vorspeise, trotz ihres erschöpften Zustands gelang es ihr zu registrieren, dass alles tatsächlich in dieser Reihenfolge kam. Zum Schluss nur noch Galle. Das Nachthemd hatte Flecken bekommen, in einem Anfall von Ekel riss sie es sich vom Leib und warf es aus dem Fenster.
    Dann eine Dusche.
    Dann Kopfschmerzen.
    Aufblitzende, weißglühende Kopfschmerzen, vielleicht war es Migräne, die sie zwang, die Lampe zu löschen und nicht eine Zeile weiterzulesen. Lebensmittelvergiftung, dachte sie. Ich habe es gewusst, im schlimmsten Fall Botulismus. Lieber Gott, lass mich schlafen können, ich verstehe nicht, was hier passiert. Was ist mit mir los?
    Sie drehte sich mühsam auf die Seite, der Raum drehte sich mit. Sie breitete die Arme aus, und Steven G. Russell fiel zu Boden.

28

Leonard Das gelbe Notizbuch
    N ovember-Dezember 1968. Wenn ich jemals die Möglichkeit haben sollte, ein Stück meines Lebens noch einmal zu leben, dann habe ich mich bereits entschieden. Ich würde diese Wochen wählen.
    Ich wachte morgens in meinem Verschlag in Coleherne Mews auf und sehnte mich nach ihr. Ich wachte davon auf, dass ich mich nach ihr sehnte.
    Ich aß mein einfaches Frühstück, bestehend aus Tee und geröstetem Brot, und sehnte mich nach ihr. Drängte mich in die Untergrundbahn zwischen die Gerüche von Steinkohle und feuchter Wolle und sehnte mich nach ihr. Saß in Camden Town, arbeitete dort und sehnte mich nach ihr.
    Ging ins Bett und sehnte mich nach ihr.
    Und meine Sehnsucht wurde erhört. Wir trafen uns. Wir liebten uns. Diverse Male. Wir sagten uns Dinge, die aus der Tiefe unserer Gehirne entsprangen, wir gingen in der heiligen Landschaft unserer Körper auf Streifzug und schwammen im Strom der blutroten Flut der Frischverliebten.
    Ich habe nie davon geträumt, Poesie zu erschaffen, und dafür sollte die Welt wirklich dankbar sein. Im Nachhinein, fast zwölf Jahre später, während ich hier sitze und diese Notizen verfasse, fällt es mir schwer zu begreifen, welche Worte es wohl waren, die wir aneinander richteten, was das Besondere an dieser Landschaft war und wie es sich eigentlich anfühlte, sich in dieser roten Flut treiben zu lassen.
    Aber so war es. Natürlich, diese Wochen boten ein Lebensgefühl, das in der kranken Blässe des Rückblicks nur durch skeptische Brillengläser betrachtet werden kann. Alles erscheint so traurig und hohl, und ich nehme an, dass es wie diese Vergessenshormone funktioniert, die sich im neugeborenen Kind entwickeln, damit es das Erlebnis, geboren zu werden, nicht mit der jämmerlichen Dürftigkeit des kommenden Lebens vergleichen muss. Das habe ich irgendwo gelesen, Gott weiß wo.
    It was. It will never be again. Remember.
    Oder forget, besser gesagt.
    Genug der geistigen Spekulationen. Wir trafen uns an drei ver schiedenen Orten: in der kleinen Wohnung am Mount Park Crescent, wo wir uns das erste Mal geliebt hatten, in einem großen, aber fast unmöblierten Zimmer in der Wardour Street in Soho – direkt über einem Pub, das The Hope and Anchor hieß – sowie in einem Hotel am Russell Square in Bloomsbury. Wenn ich nachrechne, muss ich zugeben, dass es sich insgesamt um nicht mehr als sieben oder acht Mal gehandelt haben kann, aber was nützt diese Rechnerei? Carla kannte diese

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