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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Stadion mit einem Resultat von 53,70? Oder dass er an einem denkwürdigen Winterabend im Hotel Knaust in Sundsvall gegen Michail Botvinnik Schach gespielt und ein Remis nach 54 Zügen erkämpft hatte?
    Und wenn ja, wo lag dann das Motiv? Dass das Leben so schrecklich langweilig war, dass man es ein wenig vergolden musste? Warum nicht?, dachte Lars Gustav, während er auf dem Bahnhof von Herrljunga neben einem betrunkenen Vizekorporal saß und auf einen verspäteten Schnellzug aus Göteborg wartete. Als ob er darauf ein Recht gehabt hätte. Es konnte sich ja wohl jeder vorstellen, dass die Frau, die 1938 in der Woche nach Ostern in der Postschlange in Lesjöfors vor ihm gestanden hatte, identisch war mit Mata Hari? Oder dass Prinz Bertil und Snoddas Nordgren Cousins waren?
    Und hatte Mutters Entschluss, ihre beiden Söhne zu verlassen und mit ihrem Arzt nach Håverud zu ziehen, etwas mit dem diskussionswürdigen Verhältnis ihres Ehemannes zu Wahrheit und Lüge zu tun? Eine gute Frage. Eine immer wieder auftauchende Frage.
    Laut Teodor Seléns privater Geschichtsschreibung war er nach Kriegsende einige Sommer auf einem Motorrad der Marke Norton in Europa herumgereist. Und dabei hatte er alles gelernt, was man wissen musste; er hatte alle großen Flüsse gesehen, war über alle weitgestreckten Ebenen gelaufen, auf alle hohen Berge geklettert und hatte alle wichtigen Städte besucht, zerbombte wie intakte, und Lars Gustav hatte nie herausgefunden, wie viele dieser Reisen tatsächlich stattgefunden hatten. Sein Vater konnte in allen Einzelheiten die Zitadelle auf dem Gellértberg in Budapest beschreiben, und seine Schilderung der Landungsstrände in der Normandie stimmte mit dem Bildband des Geschichtsunterrichts überein, doch bei einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen seine Mutter etwas Wesentliches über das, was früher gewesen war, zu sagen hatte – bei einem frühen Frühstück in Håverud, während die Halbgeschwister und der Herr Doktor noch schliefen –, erklärte sie, dass Teodor in diesen Jahren, bevor sie sich kennen lernten, mit dem Motorrad unterwegs war, er aber ihrer Einschätzung nach nie weiter gekommen war als bis zur Istedgade hinter dem Hauptbahnhof in Kopenhagen.
    Wort gegen Wort. Dichtung gegen Wahrheit.
    In den letzten Gymnasialjahren war es jedoch nicht die Vorliebe des Vaters für Lügen und Fantasien, die Lars Gustavs Gedanken in erster Linie beschäftigte – sondern eine äußerst lebendige und sehr reale junge Frau namens Rigmor Carlgren. Sie nannte sich Carla, da sie ihren richtigen Vornamen verabscheute, und sie war weit und breit das hübscheste Mädchen der Klasse – wahrscheinlich sogar der ganzen Schule.
    Auf jeden Fall, wenn es nach Lars Gustav ging, aber er stand mit Sicherheit nicht allein mit seiner Meinung. Doch er diskutierte diese Frage nie mit jemand anderem, da er es vorzog, seine Ansichten für sich zu behalten. Das hatte sich so ergeben, und dabei rührte es sich wahrscheinlich um die gleiche nach unten führende Spirale des Insichgekehrtseins, die auch seinen Bruder nach dem Zusammenstoß mit Zigeuner-Tony in den Kleinkindertagen ereilt hatte. Nur langsamer. Lars Gustav entwickelte nie irgendein Stottern, doch während der Jahre auf dem Gymnasium zählte er zweifellos zu der Schar der Schweiger. Möglicherweise brachte das einen Hauch von leichter Tiefsinnigkeit und ein wenig Interesse – zumindest für einige – mit sich, aber es lag keinerlei Berechnung dahinter. Lars Gustav Selén redete nicht, da er nicht gern redete. Er war der freiwillige Bannerträger des Schweigens, wenn das Schweigen denn über so etwas verfügte.
    Carla war dunkel und zartgliedrig. Sie war im ersten Jahr nach den Frühjahrsferien in die Klasse gekommen, und was ihre Vergangenheit betraf, so gab es einige ungeklärte Fragen. Geradezu so einen Schimmer von Mystik, wenn man so wollte. Sie zog zusammen mit ihrer Mutter in eine Wohnung in der Badhusgatan, und auch die Mutter war eine Schönheit, wenn auch die eines anderen Jahrgangs, und sie fing umgehend an, in der Handelsbank am Marktplatz in einer Art Chefposition zu arbeiten. Ein Vater kam nicht vor, es sollte ein paar Jahre dauern, bis Lars Gustav mehr darüber erfuhr, ob er nun tot oder einfach abserviert worden war. Ja, die Fakten kamen an jenem denkwürdigen Abend zu Tage, an dem er sich mit Carla in Gesellschaft von zwei Flaschen Rotwein – Parador à 4,90 das Stück, eine äußerst beliebte Marke in diesen Jahren –, sieben

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