Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
vor, meine Jungen sind seit langem wieder zu Besuch. Alexander ist ganz schmal geworden, man scheint ihm nicht genug zu essen zu geben. Und Ellart ist schon Fähnrich, aber Berlin steigt ihm wohl ein wenig zu Kopf.« Bei dem Gedanken an Clemens begann ihr Herz wie wild zu rasen. »Eberhard, Liebster, Clemens ist wieder da, nach so vielen Jahren … Es ist eine große Freude, aber irgendwie beunruhigt es mich auch. Ach, mein Geliebter, könntest du doch nur zu mir sprechen …«
Es dauerte lange, bis sie in dieser Nacht in einen unruhigen Schlaf fiel. Mehrmals wachte sie schweißgebadet auf, und ihr erster Gedanke war Clemens. Sie sah ihn vor sich, wie er sie anblickte mit seinen warmen blauen Augen, voller Liebe und Sehnsucht.
Auch Elvira und Jesko hatten lange nicht einschlafen können. »Ist es nicht eine Fügung, dass Aglaia ausgerechnet heute das erste Mal nicht in Trauerkleidung war, ohne das schwarze Häubchen auf ihrem herrlichen Haar, das sie trotz ihrer Schönheit aussehen ließ wie eine Trauerweide?«
»Nun, bei dieser Fügung hast ja wohl du deine Hand im Spiel gehabt, meine Liebe.«
»Was das Kleid betrifft. Aber ich konnte doch wirklich nicht ahnen, dass Clemens bereits heute hier auftaucht. Das meine ich mit Fügung! Und sag mal, sieht er nicht blendend aus? Ich hatte schon ganz vergessen, was für ein schöner Mann er ist.«
»Apropos«, Jesko lag bereits im Bett, während sich Elvira die Haare bürstete, »wieso wusste ich eigentlich nichts von deiner Einladung an Clemens zur Hasenjagd?« In seiner Stimme lag ein leiser Vorwurf.
»Es sollte eine Überraschung werden, für euch alle! Deshalb habe ich Clemens auch gebeten, mir nicht schriftlich zuzusagen, sondern einfach zu kommen. Ich würde in jedem Fall das blaue Zimmer für ihn freihalten.« Sie setzte ihre Nachthaube auf, löschte die Kerzen, kroch zu Jesko unter die Decke und kuschelte sich an ihn. »Du bist mir doch nicht böse, Schatz, oder?«
»Ach, wie könnte ich denn! Du sagst ja schon seit geraumer Zeit, Aglaia braucht einen neuen Mann. Wenn ich mich nicht täusche, müssen wir da gar nicht mehr lange suchen.«
Heiligabend war sehr stimmungsvoll. Clemens hatte jedem ein kostbares Geschenk mitgebracht. Alexander bekam eine kunstvoll verarbeitete Jagdflinte und Ellart eine goldene Taschenuhr, die er in Berlin sofort zu Geld machen wollte. Wenn er an seine Schulden dachte, wurde ihm übel. Die fünfhundert Mark, die er seiner Großmutter mühsam aus der Tasche gezogen hatte, waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Elvira erhielt ein vierundzwanzigteiliges Teeservice aus feinstem Porzellan und Jesko und Ferdinand wertvolle, in Safranleder gebundene Erstausgaben berühmter Autoren. Während alle ihre Geschenke bewunderten und Jesko und Ferdinand in ihren Büchern blätterten, überreichte Clemens Aglaia ein rotes Lederetui.
Niemand achtete auf sie, als Clemens leise sagte: »Ich fand diese Kette im Nachlass meines Onkels mit einem Zettel. Dieses Schmuckstück gehörte deiner Tante. Schenke es nur einer ganz besonderen Frau. «
Aglaia öffnete das Etui. Auf rotem Samt lag eine Perlenkette aus großen, matt schimmernden Südseeperlen. »Aber Clemens … so etwas Kostbares kann ich doch gar nicht annehmen.«
»Bitte, Aglaia, ich habe niemanden sonst, dem ich sie schenken könnte.«
Beim Abendessen erhob sich Jesko zu einer kleinen Rede. »Mein lieber Junge«, wandte er sich an Clemens, »du hast uns so reich beschenkt, nicht nur mit deinem überraschenden Besuch, sondern auch noch mit so überaus kostbaren Gaben. Da keiner von uns darauf vorbereitet war, wir also mit leeren Händen dastehen, möchte ich, dass du dir ein Pferd aus unserer Zucht aussuchst. Alexander, würdest du in den nächsten Tagen deinen Patenonkel nach Linderwies begleiten?«
»Aber natürlich, Großpapa! Onkel Clemens«, sagte er, »ich denke da an einen einjährigen Vollblüter, ein herrliches Tier. Es hat einen wunderschönen Hals und eine lange Schulter …«
»Nun man langsam, Jungchen«, unterbrach ihn Jesko. »Ich habe gesagt, Clemens soll sich ein Pferd aussuche n.«
»Verzeih, Großpapa.« Alexander lief vor Verlegenheit rot an.
Aber Clemens rettete die Situation. »Ich bin dir für jeden Rat dankbar, Alexander, wirklich. Für Vollblüter habe ich ein besonderes Faible. Und dir, Jesko, danke ich sehr, lieber Freund.«
»Also dann trinken wir auf unsere Besucher, die ein wirkliches Weihnachtsgeschenk für uns alle waren«, rief nun Ferdinand, und
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