Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
oder nicht, manchmal könnte ich heulen.« Sie prosteten sich mit ihrem Bier zu. »Hast du eigentlich jemals daran gedacht, dir eine andere Lehrstelle zu suchen, Alex?«, fragte Franz.
»Nein, du etwa?« Alexander grinste seinen Freund verschwörerisch an. »Wir sind ja schließlich keine Weicheier.«
Und Franz meinte: »Diese Blöße würde ich mir nie geben.« Sie waren sich einig, da musste man durch.
»Übrigens, in Linderwies und Schernuppen sind die Ernten auch wieder miserabel ausgefallen«, erzählte Alexander weiter. »Großvater trägt sich mit dem Gedanken, Schernuppen zu verkaufen. Zwei Jahre Missernten verkraftet Birkenau nicht. Hast du schon davon gehört?«
Franz schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich traurig. Aber wenigstens ist es nicht Linderwies.«
Alexander machte der Bedienung ein Zeichen, die Rechnung zu bringen. »Ich glaube, wir müssen uns auf den Weg machen. Ellarts Zug kommt in ein paar Minuten.«
Am Bahnhof erwartete sie bereits Josef mit dem Schlitten. »Tachjen und willkommen, die Herren«, sagte er strahlend, den Bowler mit beiden Händen vor der Brust. »Alle im Schloss sin schon mächtich aufgjerecht. Auch dein Muttchen, Franz. Gjanz aus’m Häuschen is se.«
In dem Moment fuhr, laut prustend und weiße Dampfwolken ausstoßend, der Zug ein. »Iiiinsterburch …«, rief der Stationsvorsteher. Der Bahnsteig war voller Menschen. Man hörte Rufe wie »Gjute Fahrt und gjrüß man Ohmchen« – »Erbarmerche, was is der Koffer schwer« – »Ei, was biste gjroß gjeworden, Jungchen« – »Wir müssen einsteijen, das Schaffnerchen hat schon zwei Mal gjepfiffen!« Alexander sah sich suchend nach seinem Bruder um. In seiner eleganten Uniform mit dem pelzbesetzten Mantel tauchte er aus dem Nebel der Dampfwolken auf. Alexander erschien er zwischen dem ganzen Landvolk wie von einem anderen Stern. »Willkommen zurück in der Provinz.« Er umarmte seinen Bruder. »Du siehst ja fabelhaft aus in dieser Aufmachung. Direkt erwachsen kommst du mir vor.«
Franz schüttelte Ellart freundschaftlich die Hand, und Josef war so beeindruckt, dass er rot anlief und stotterte: »Tachchen, Herr Leutnant … habn Se ’ne gjute Reise gjehabt?«
Alexander und Franz mussten grinsen, und Ellart lächelte amüsiert. »Nu lass man, Josef, zum Leutnant habe ich es noch nicht gebracht. Fähnrich bin ich, und für dich immer noch der Ellart.«
Josef atmete sichtlich erleichtert auf, und auch Alexander dachte: ›Gott sei Dank ist er noch nicht total übergeschnappt, mein kleiner Bruder.‹
Nachdem die Gepäckstücke verstaut und die drei Fahrgäste in Felldecken gepackt waren, ging die Fahrt los. Bald waren sie aus der Stadt heraus, und die Fahrt ging durch das tief verschneite Land. Nur das leise Läuten der Glöckchen am Pferdegeschirr unterbrach die lautlose Stille. Ab und an war das Heulen eines hungrigen Wolfes aus den nahe gelegenen Wäldern zu hören. Es hatte zu schneien begonnen, und der eisige Ostwind machte eine Unterhaltung unmöglich. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Doch niemand konnte ahnen, was Ellart bewegte. Wie würde er es bloß schaffen, an Geld zu kommen? Er hatte hohe Schulden bei einem Geldverleiher. Das Leben in Berlin war teuer, irgendwie musste er das seiner Großmutter klarmachen.
Es war bereits dunkel, als sie auf Birkenau ankamen. Die Freude, ihre Jungen gesund und munter in die Arme schließen zu können, trieb Aglaia die Tränen in die Augen. »Schmal bist du geworden, mein Alex«, sagte sie. »Kriegst du nicht genug zu essen?« Und zu Ellart: »Und du, mein Kleiner, du scheinst mir gewachsen zu sein.«
»Nicht nur größer, auch erwachsener kommt er mir vor.« Elvira sah ihren Liebling stolz an. »Was sagst du, Jesko, sieht er nicht fabelhaft aus in seiner Uniform?«
»Doch, zweifellos.« Auch Jesko war überrascht von seinem jüngsten Enkel. ›Vielleicht wird ja doch noch was aus ihm. Es wäre zu schön, wenn ich mich in ihm getäuscht hätte‹, dachte er bei sich.
Eine Stunde später traf sich die Familie wieder im Salon. Zur Feier des Tages wollte man vor dem Abendessen eine Flasche Champagner trinken. Selbstverständlich war für den heutigen Abend große Toilette angesagt.
Elvira erschien in Aglaias Boudoir, als diese dabei war, in ihr schwarzes Abendkleid zu schlüpfen. »Eberhard ist jetzt über zwei Jahre tot. Du bist noch eine junge Frau, gerade mal siebenunddreißig. Jetzt ist Schluss mit der Trauerkleidung.« Sie ging an den Kleiderschrank und zog ein
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