Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
gedeckt. Die blütenweißen, mit kostbarer Klöppelspitze besetzten Damasttischtücher reichten bis zum Boden. Kostbares Meißner Porzellan, blank geputztes Silber und schweres Kristall funkelten um die Wette. Pinkfarbene Pfingstrosen in flachen Schalen, über die ganze Tafel verteilt, verströmten einen betörenden Duft. Auf jedem Gedeck stand in einem silbernen Menühalter ein mit goldener Schrift beschriebenes Platzkärtchen aus Büttenpapier, auf dem auch das Menü mit der Speisefolge gedruckt war. Noch war der lange Saal durchflutet von den Strahlen der tief stehenden Sonne. Aber bald würden die Lakaien die Kerzen an den achtarmigen hohen Kandelabern anzünden, die an den Wänden aufgereiht waren. Nachdem alle ihre Plätze gefunden hatten, kam die Unterhaltung schnell in Fluss. Man kannte sich, an Themen fehlte es nie, und wer das Pech hatte, eine Tischdame wie die Kommerzienrätin Heller erwischt zu haben, amüsierte sich mit der Dame zur Rechten oder tröstete sich mit dem hervorragenden Essen und erstklassigen Weinen. Man lachte, kicherte, und es wurde auch heftig geflirtet. Elvira saß zwischen dem Brautvater und Mathias Lackner, dem Besitzer des Gutes Lindicken, unweit von Wallerstein. Lackner und sie beobachteten beide amüsiert, wie Ursula von Eyersfeld mit ihrem Tischherrn, Mathias Goelder, einem der schönen Zwillinge, kokettierte.
»Mein Namensvetter ist wohl wieder auf der Jagd nach einer Trophäe«, lachte Lackner gutmütig. »Ihm scheint es egal zu sein, wie alt die Dame ist! Er ist mir man schon ein Luntrus.«
»Das ist ja kaum zu übersehen«, kicherte Elvira, »und Ursula ist doch wirklich noch ganz ansehnlich. Aber sieh dir bloß Wilhelmine an, ihr Lorgnon zittert schon vor Empörung.«
»Solange es den alten Eyersfeld nicht stört, soll sich die Gute doch amüsieren. Ihr Mann ist ja nun auch schon reichlich betagt, findest du nicht?« Lackner deutete hinüber zu dem alten Baron. »Er ist kurz davor, einzuschlafen. Sein Monokel, von dem ich als Kind immer gedacht habe, es sei eingewachsen, fällt ihm schon dauernd aus dem Auge.«
»Werd du erst mal so alt, du frecher Kerl«, sagte Elvira lachend. Aber bei sich dachte sie das Gleiche. Sollte Ursula doch ruhig ein wenig Spaß haben. Denn mehr als ein Spaß konnte es ja nicht sein. Mathias könnte ja schließlich ihr Sohn sein!
Gerade wurde das Dessert, Himbeerparfait mit Vanilleeis, abgetragen, da klopfte Horst von Wallerstein gegen sein Glas und erhob sich. »Ich bitte euch, meine lieben Gäste, eure Gläser zu erheben …« Es begann ein heftiges Stühlerücken. Die Damen machten ergriffene Gesichter, und Wilhelmine zückte vorsichtshalber ihr Spitzentaschentuch, während die Herren eine feierliche Miene aufsetzten. »Ich möchte mit euch auf das Wohl unseres Brautpaares trinken. Das Brautpaar lebe hoch!«, rief er, und ein vielstimmiges »Hoch! Hoch! Hoch!« erklang. Dann nahmen alle außer Horst wieder Platz.
»Liebe Kinder, liebe Gäste. Es ist nicht nur meine Pflicht, sondern mir auch ein großes Bedürfnis, heute Abend zu euch zu sprechen. Für alle Eltern kommt einmal der Tag, an dem die Kinder aus dem Haus gehen. Der Tag, vor dem man sich fürchtet. Und nun ist er da, dieser Moment, wo unser Kind uns verlässt. Aber unsere leise Trauer wird gemildert durch das Glück, das Aglaia mit Eberhard gefunden hat. Sie hat ihn selbst gewählt, und ihre Wahl hätte meiner Meinung nicht besser ausfallen können. Und was unser Glück noch verstärkt, ist, dass Birkenau nicht aus der Welt ist und wir euch, meine lieben Kinder, hin und wieder sehen werden.« Er hielt inne und küsste Aglaia auf beide Wangen. Wieder heftiges Stühlerücken, alle erhoben ihre Gläser, und es erklang noch einmal ein lautes: »Das Brautpaar lebe hoch! Hoch! Hoch!«.
Mit keinem Wort hatte Horst Tanya erwähnt, wusste er doch, wie sehr seine Tochter unter ihrer Abwesenheit litt. »Ich danke dir für deine lieben Worte, Papachen«, sagte Aglaia leise. »Es ist alles so wunderschön heute, und ich bin sehr, sehr glücklich. Und doch muss ich dauernd an Tanya denken, wie mag es ihr wohl ergehen?«
»Ich weiß, mein Liebling.« Horst drückte seine Tochter fest an sich. »Ich verstehe dich wahrscheinlich besser, als du denkst. Aber lass uns den heutigen Tag genießen. Es soll doch der schönste in deinem Leben sein.« Wilhelmine stand auf, ein Zeichen, dass die Tafel aufgehoben war. Die Türen zum großen Saal wurden geöffnet, und das Orchester begann den
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