Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Moment tauchte Ursula am Ende des Saales auf. Ihr Gesicht war gerötet und die Frisur etwas derangiert. Elvira ging ihr ein paar Schritte entgegen und zischte ihr zu: »Du hast ewig nach Fritz gesucht und ihn endlich schlafend in der Bibliothek gefunden, hörst du?«
»Wie siehst du denn aus?« Wilhelmines erbarmungsloser Lorgnettenblick traf Ursula, die sich erschöpft in einen Sessel sinken los.
»Nun lass mich erst mal Luft holen«, sagte sie. »Ich war überall auf der Suche nach Fritz. Und wisst ihr, wo er war? Er saß, also das heißt, er sitzt immer noch selig schlafend in der Bibliothek.« Ein dankbarer Blick traf ihre Freundin. »Elvira weiß, was ich mir immer für Sorgen um ihn mache. Schließlich ist er ja nicht mehr der Jüngste.«
»Und Mathias Goelder, wo hast du den gelassen?«, konnte sich Wilhelmine nicht verkneifen.
»Sag mal, jetzt ist es aber genug!« Elvira fragte sich ernsthaft, ob ihre Freundin verrückt geworden war? »Was unterstehst du dich? Du solltest dich bei Ursula entschuldigen.«
Mit großen Augen hatte die junge Amalie Lackner dem Streit der älteren Frauen gelauscht. Was wollten Gräfin Wallerstein und diese schreckliche Kommerzienrätin der reizenden Ursula von Eyersfeld eigentlich unterstellen? Dass sie mit Mathias Goelder …? Geradezu lächerlich war das. Mathias war so alt wie sie, also mindestens zwanzig Jahre jünger als die Baronin. Während das Gezänk weiterging, erhob sie sich. »Ich suche jetzt mal meinen Mathias, wer weiß, wo der sich herumtreibt.« Sie fand ihn in der Halle, zusammen mit Mathias Goelder, Champagner trinkend und über irgendetwas lauthals lachend. »Na ihr beiden, was ist denn so lustig? Erzählt mal, ich möchte auch mitlachen.«
»Das ist nichts für schwangere junge Mädchen«, sagte ihr Mann. »Komm, die Musik spielt einen langsamen Walzer, den werden wir zwei … nein, wir sind ja zweieinhalb … wohl noch schaffen.«
Der Morgen graute bereits, als die Musiker ihre Instrumente einpackten und die letzten Gäste sich zu Bett begaben.
Tanya hatte in Agnes eine Vertraute, ja eine Freundin gefunden. In den ersten Wochen ihrer täglichen Spaziergänge im Klostergarten waren sie schweigend nebeneinander gegangen. Aber eines Tages, das Kloster war außer Sichtweite, fragte Agnes leise: »Was ist passiert, Tanya, warum bist du hier? Gab es denn niemanden, bei dem du unterkommen konntest?«
»Nein, ich habe niemanden, und meine Tante hasst mich. Seit meiner Geburt bin ich bei ihr, aber sie verabscheut mich.« Tränen liefen ihre Wangen hinab, trotz ihrer Erleichterung endlich mit jemandem sprechen zu können. »Ich weiß nicht warum, ich habe ihr nie etwas getan.« Die beiden setzten sich auf eine Bank im Schatten einer Kastanie. »Ich durfte mich nicht einmal von meiner Cousine Aglaia verabschieden. Sie ist für mich wie eine Schwester. Ich kann gar nicht verstehen, dass sie mir nicht ein einziges Mal geschrieben hat. Niemand schreibt mir, auch nicht mein Onkel Horst, Aglaias Vater. Ich verstehe das nicht! Er hat mich lieb, das weiß ich.«
Agnes zögerte, dann sagte sie: »Deine Tante erlaubt es nicht. Du sollst auch keinen Besuch bekommen. Ich war dabei, als sie es der Äbtissin ausdrücklich verboten hat.«
Tanya sah sie entsetzt an. »Das hat sie wirklich getan? Mein Gott, wie sehr muss sie mich hassen. Glaube mir, niemals habe ich ihr dazu Anlass gegeben.«
Nach und nach erfuhr Agnes die traurige Geschichte Tanyas. Ihr Herz quoll über vor Mitleid. Beide konnten es jetzt kaum erwarten, zusammen in den Garten zu gehen und ihre heimlichen Gespräche zu führen. Täglich wurde es wärmer, die Natur erblühte, und die Vögel zwitscherten. »Du musst mehr essen, Tanya«, sagte Agnes häufig, wenn sie ihre Freundin einmal umarmte und nur Haut und Knochen spürte. »Du und vor allem dein Kindlein, ihr braucht Kraft. Wie willst du denn die Geburt überstehen?«
Eines Tages fasste Tanya sich ein Herz: »Am zehnten Mai heiratet Aglaia.« Über ihr zartes Gesichtchen huschte ein trauriger Schatten. »Sie wollte so sehr, dass ich ihre Brautjungfer bin. Ich möchte ihr wenigstens schreiben. Auch wenn diese Zeilen niemals die Klostermauern verlassen, so könnte ich doch meine Gedanken zu Papier bringen. Könntest du nicht …?«
Agnes sah sie entsetzt an. »Was du da von mir verlangst, ist unmöglich. Es ist schon eine große Sünde, dass ich mit dir spreche.« Sie senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ich habe es nicht einmal
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