Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Baron Eyersfeld in einem Sessel Platz genommen hatte und ihm langsam die Augen zufielen. Nach kurzer Zeit herrschte in der Bibliothek eine himmlische Ruhe bis auf das leise Schnarchen des alten Barons.
Wilhelmine hatte mehrere Pflichttänze absolviert und saß nun schwer atmend am Rand der Tanzfläche neben der unvermeidlichen Kommerzienrätin Heller. Sie fächelte sich unablässig Luft zu. »Mein Gott, für diese Polkas bin ich wirklich zu alt«, sagte sie schnaufend. »Schrecklich, diese Pflichttänze, hoffentlich werde ich von weiteren verschont.« Sie nahm einem vorbeigehenden Lakaien ein Glas Champagner ab und trank es in einem Zug leer.
»Ein wunderbares Fest«, sagte die Heller jetzt pflichtschuldig. »Ganz hervorragend haben Sie das alles arrangiert. Sie sind wirklich ein großes gesellschaftliches Talent.«
»Danke, meine Liebe«, antwortete Wilhelmine geschmeichelt. »Ich bin auch ganz erschöpft von der vielen Arbeit. Es hing ja alles an mir.«
»Was hing alles an dir?«, fragte Elvira, die nur die letzten Worte gehört hatte. »Na, die ganze Vorbereitung der Hochzeit … du weißt schon.« Elvira lächelte milde. Natürlich wusste sie, dass Wilhelmine sich um so gut wie gar nichts gekümmert hatte. Die wichtigsten Sachen hatte Aglaia mit ihr, Elvira, besprochen, und die meiste Arbeit hatten die Gärtner, die Hausdame Frau Hübner, Kurt und die Mamsell gehabt.
Inzwischen hatte sich Amalie Lackner zu ihnen gesellt. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich bin ja ganz außer Puste. Kein Wunder in meinem Zustand.«
»In welchem Monat bist du denn?«, fragte Wilhelmine. »Doktor Grüben … ah, da tanzt er ja!« Amalie winkte dem jungen Arzt fröhlich zu, »also der Doktor sagt, ich müsste im sechsten Monat sein.«
›Mein Gott‹, dachte Elvira, ›genau wie Tanya.‹ Sie suchte nach einer Regung in Wilhelmines Gesicht, aber es war undurchdringlich, als hätte sie das gar nicht gehört. ›Sie ist eiskalt‹, dachte Elvira. Die Musik machte jetzt eine Pause, und die lachenden und plaudernden Menschen ließen sich von den Lakaien Erfrischungen servieren.
»Lass uns einen Moment nach draußen gehen«, schlug Aglaia Eberhard vor. »Ich brauche etwas frische Luft.« Es war ein milder Abend. An dem wolkenlosen Himmel strahlten die Sterne, und die Sichel des halbvollen Mondes tauchte den Park in ein sanftes, fahles Licht. Arm in Arm stand das junge Paar auf der menschenleeren Terrasse. Gerade schlug die Kirchturmuhr des unweit gelegenen Dorfes zehn. »Was für ein wundervoller Zufall, dass wir in diesem Moment allein hier draußen sind!«, sagte Aglaia aufgeregt. »Gerade jetzt denkt Tanya an mich und ich an sie.«
Eberhard sah sie fragend an. »Wieso bist du dir da so sicher?«
»Ich werde dir etwas erzählen, das niemand sonst weiß.« Und sie berichtete ihm von ihrem Abenteuer, als Tanya und sie noch klein waren und den Himmel über Ostpreußen durch das Teleskop ihres Großonkels entdeckt hatten. »Wir haben uns Sterne ausgesucht und uns gegenseitig versprochen, wenn wir getrennt sind, immer um zehn Uhr abends in den Himmel zu schauen und aneinander zu denken.« Sie drückte sich noch fester an ihn. »Ich finde, es gibt nichts Schöneres als den Himmel über Ostpreußen.« Sie schwiegen eine Weile. »Ach Eberhard, ich bin so schrecklich glücklich, und ich liebe dich so sehr, aber Tanyas Schicksal betrübt mich arg. Das verstehst du doch sicher?«
»Natürlich, Liebes. Aber lass uns jetzt nicht traurig werden. Wir wollen wieder hineingehen und tanzen.« Aglaia zögerte. »Hast du das auch gehört, Eberhard? Ich meine, da waren merkwürdige Geräusche in der Hecke.«
»Ach, das wird eine streunende Katze gewesen sein. Komm, lass uns hineingehen.«
Wilhelmine betrachtete durch ihr Lorgnon aufmerksam die vorbeitanzenden Menschen. »Wo ist eigentlich Ursula?«, fragte sie. »Ich habe sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.«
»Keine Ahnung«, meinte Elvira, »irgendwo wird sie schon sein. Das Schloss ist schließlich groß genug.«
»Merkwürdig«, ließ sich die Kommerzienrätin vernehmen. »Den Rotschopf Goelder vermisse ich auch schon eine Weile.«
»Also Frau Heller!« Elvira war ehrlich empört. »Und den Baron von Eyersfeld, vermissen Sie den nicht auch? Jedenfalls kann ich ihn nirgends entdecken. Was wollen Sie meiner Freundin denn da eigentlich unterstellen?«
»Nun, man macht nur seine Beobachtungen. Auffällig genug scharmutziert haben sie ja schließlich, die beiden.«
In dem
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