Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
versetzt hat, hatte ich dazu keine Lust mehr. Und ich fürchte, Aglaia geht es genauso.«
»Sitzt sie jetzt etwa allein in ihrem Palazzo Prozzo?« Louises Frage klang in keiner Weise mitleidig. »Eine grauenhafte Vorstellung.«
»Nein, sie schrieb, die liebe n Hellers hätten sie über die Feiertage eingeladen.«
»Ha, das ist ja noch grauenhafter!«, meinte Philine. »Für mich wäre das die Strafe Gottes!«
Ferdinand hatte den Salon betreten. »Was höre ich da? Die arme Wilhelmine kann einem ja direkt leidtun, ihr bösen Frauenzimmer. Da werde ich euch wohl mal wieder auf den Weg der Tugend zurückführen müssen. Was haltet ihr zur Läuterung von etwas sakraler Musik? Philine, du hast doch hoffentlich deine Geige dabei?«
»Aber natürlich. Ich hole sie sofort.« Von einer Sekunde zur nächsten dachte keiner mehr an Wilhelmine. Lachend und plaudernd begaben sich alle in das Musikzimmer, die Herren aus der Bibliothek kamen dazu, und bald war der Raum voller fröhlicher Menschen, die von den Dienern mit allerlei Getränken versorgt wurden und sich so den Nachmittag vertrieben, bis es Zeit war, sich für den Abend umzuziehen.
Die Tage vergingen mit langen Spaziergängen, Musizieren und Karten- und Gesellschaftsspielen. Die Jugend lief Schlittschuh auf dem zugefrorenen See, baute Schneemänner und machte Schneeballschlachten. Zwischen all diesen Vergnügungen gab es üppige Mahlzeiten.
Zwei Tage lang hatte es heftig geschneit. »Wir müssen mit der Hasenjagd warten, bis das Wetter umschlägt«, verkündete Jesko. »Aber das Barometer steigt. Ich denke, in ein bis zwei Tagen kann es losgehen.«
Am 29 . Dezember – es war ein strahlender Wintertag – fand endlich die alljährliche Hasenjagd statt. Bereits bei Sonnenaufgang herrschte große Betriebsamkeit im ganzen Schloss. Bis hinauf in Aglaias Schlafzimmer drangen die fröhlichen Stimmen der aufgeregten Jagdgäste. Einer suchte seine Pelzmütze, ein anderer vermisste seine Stiefel, und einer der Jäger rief: »Wer noch eine Büchse braucht – bitte ins Jagdzimmer kommen.«
Aglaia saß in ihrem Bett, in der Hand eine Tasse heiße Schokolade. Traurig betrachtete sie Eberhard bei seiner Toilette. »Es ist so ein herrlicher Tag. Wie gern würde ich mit euch kommen«, sagte sie. »Aber in meinem Zustand kann ich ja nicht einmal ein Gewehr anlegen, geschweige denn schießen.«
»Nun sei man nicht so unglücklich«, tröstete Eberhard sie. »Es wird noch so viele Jagden geben in deinem Leben.«
»Ich weiß.« Aglaia seufzte. »Aber gerade heute hätte ich schreckliche Lust.«
Eberhard öffnete die Tür und ließ Paulchen und Bello herein. »Geh mit deinen Lieblingen in den Park«, sagte er. »Das hebt deine Stimmung bestimmt wieder.« Er gab ihr einen Kuss und streichelte ihren Bauch. »Bis später, Liebling. Bald hast du es ja überstanden.« Aglaia hatte eine unruhige Nacht gehabt. Das Kind hatte gestrampelt, und sie war immer wieder aufgewacht. »Lasst mich noch ein wenig schlafen«, sagte sie zu den beiden Hunden, die mit aufgestellten Ohren vor ihrem Bett saßen und sie aufmunternd ansahen. »Wir gehen ein wenig später, versprochen.« Sie fiel noch einmal in einen traumlosen Schlaf und erwachte erst wieder, als der Wind das laute Blasen der Jäger und das Hepp Hepp der Treiber zu ihr hinübertrug. Dann begannen die Büchsen zu knallen, in einem fort, und an Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Sie kleidete sich hastig an. »Dann kommt mal, ihr Racker«, rief sie, und ohne zu frühstücken, lief sie mit den Hunden hinaus in den Park. Auch hier waren die Schüsse zu hören, etwas gedämpfter als auf der anderen Seite des Schlosses. Erst als auf der Lichtung des Eichenwaldes die Erbsensuppe ausgeteilt wurde, war es für eine Weile still.
Zum Jahreswechsel wurde noch einmal ausgiebig gefeiert, dann kehrte auf Birkenau wieder eine beschauliche Ruhe ein. Die Gäste waren abgereist, nur Ferdinand verspürte keine Lust, die Heimat so schnell wieder zu verlassen. Ein Mal fuhr er nach Königsberg, begleitete Louise in die Oper und zu gesellschaftlichen Anlässen und unterhielt die Familie nach seiner Rückkehr mit dem neuesten Klatsch aus der Stadt.
Februar 1850
A glaias Niederkunft stand jetzt kurz bevor. Doktor Grüben war vorbeigekommen, um nach ihr zu sehen. »Es kann sich nur noch um ein paar Tage handeln«, sagte er zu Elvira. »Wenn die Wehen anfangen, schicken Sie sofort nach Erna Kurbischke. Sie weiß Bescheid, dass es jeden Tag losgehen
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