Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Wilhelmine erhob sich sofort. »Ich will dich dabei nicht stören«, sagte sie, als wäre sie ein wenig peinlich berührt. Sie gab Aglaia einen flüchtigen Kuss auf die Wange und eilte davon.
Clemens war ganz überwältigt gewesen, als Aglaia ihn gebeten hatte, Alexanders Pate zu werden. Er hatte ihre beiden Hände geküsst und mit erstickter Stimme gesagt: »Ich werde diese Patenschaft sehr ernst nehmen. Was auch immer passiert, liebste Aglaia, ich werde stets für Alexander und dich da sein.«
»Das ist sehr lieb von dir, Clemens«, hatte Aglaia erfreut gesagt und seinen Worten keine größere Bedeutung beigemessen. Sie fand, dass er manchmal für sein Alter ein wenig zu ernst war.
Elvira war vernarrt in das Kind. Wenn es weinte, war sie die Erste, die es auf den Arm nahm und herumtrug, bis es wieder ruhig war. Wenn es sich nicht gleich beruhigte, befürchtete sie eine schwere Erkrankung und wollte sofort nach Doktor Grüben schicken. »Du entwickelst dich ja zu einer richtigen Glucke«, sagte Jesko kopfschüttelnd.
Aglaia meinte: »Wenn du so weitermachst, wird er noch zu dem verwöhntesten Bengel Ostpreußens.« Aber sie ließ sie gewähren, stand doch Elviras Reise bevor, und sie würde Alexander für ein paar Monate nicht sehen.
Wochenlang war die Reise nach Malta Thema der Tischgespräche gewesen. Die Schiffspassagen waren gebucht, Kleider, Hüte und die passenden Sonnenschirme gekauft und bereits in großen Schrankkoffern verstaut. Ende März sollte es losgehen. Während Jesko schon seit Tagen von heftigem Reisefieber gepackt war, wurde Elvira immer stiller. Die Einzige, die das bemerkte, war Aglaia. »Was ist mit dir, Tante Elvira, geht es dir nicht gut?«
»Doch, doch.« Obwohl beide allein im Raum waren, senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern: »Ich wage es kaum zu sagen, aber ich habe überhaupt keine Lust, Birkenau zu verlassen.«
Aglaia sah sie erstaunt an. »Was heißt denn verlassen? Ihr werdet doch wohl wiederkommen.«
»Ja, natürlich, aber ich will jetzt einfach nicht weg. Die Vorstellung, Alexander so lange nicht zu sehen, nicht dabei zu sein, wie er sich entwickelt …«
Aglaia brach in lautes Gelächter aus. »Das ist doch nun wirklich nicht dein Ernst! Ihr seid gerade mal zweieinhalb Monate weg. In dieser Zeit wird Alexander weder laufen noch sprechen lernen. Du versäumst höchstens sein Gebrüll, wenn er den ersten Zahn bekommt.« Sie stockte. »Du hast das doch hoffentlich nicht auch zu Jesko gesagt? Er ist so aufgeregt und voller Vorfreude, es würde ihn bestimmt sehr traurig machen.«
»Um Himmels willen, nein.« Elvira sah Aglaia flehend an. »Verrat mich nicht. Jesko würde mich für total meschugge halten.«
»Na ja, ein bisschen verrückt ist es ja auch«, sagte Aglaia lachend. »Aber zur Taufe seid ihr ja wieder da. Dann ist hier Frühling, alles blüht, bestimmt auch schon einige deiner geliebten Rosen. Jetzt sei mal wieder fröhlich. Diese Reise wird sicher ein wunderbares Erlebnis.«
»Na gut, wenn du meinst …« Sehr glücklich klang das allerdings nicht.
In der drauffolgenden Woche brachten Aglaia und Eberhard Jesko und Elvira zum Schiff nach Königsberg. »Passt mir bloß gut auf Alexander auf«, sagte Elvira immer wieder. »Ich habe schon jetzt Sehnsucht nach ihm.«
Jesko schüttelte ungläubig den Kopf. »Nun lass aber man die Kirche im Dorf. Ich liebe mein Enkelkind ja auch. Aber was du da aufführst … Ich habe fast den Eindruck, du freust dich gar nicht mehr auf diese Reise. Vielleicht erinnerst du dich, dass du es warst, die sie unbedingt machen wollte.« Er war jetzt tatsächlich etwas ärgerlich.
»Um Gottes willen, Jesko, natürlich freue ich mich. Aber der Kleine ist so süß …« Sie sah Aglaia hilfesuchend an.
»Mach dir man keine Sorgen, Tante Elvira«, Aglaia strich ihr beruhigend über die Hand. »Onkel Ferdinand ist ganz erpicht darauf, deine Stelle zu übernehmen.«
»Nun denkt mal an euch und die Abenteuer, die auf euch warten, und nicht an unseren Sohn. Ich bin ja schließlich auch noch da«, schaltete sich Eberhard ein. »Und du Papachen, sagst doch immer, Tante Elvira ist eine Glucke. Das kann sie eben nicht so schnell ablegen.«
Als sie am Kai ankamen, hatte auch Elvira die Vorfreude auf die Reise gepackt. Man umarmte sich zum Abschied. »Gute Reise, und kommt gesund zurück!«, riefen Aglaia und Eberhard ihnen nach und schwenkten ihre Taschentücher, bis sie im Schiff verschwunden waren.
Eberhard winkte eine Droschke herbei. »Zum
Weitere Kostenlose Bücher