Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
hinauf.
Willi war gerade dabei, die dritte Flasche Port zu entkorken, als das Schreien plötzlich aufhörte. Eberhard, der seit geraumer Zeit nervös auf und ab gegangen war, blieb abrupt stehen. Keiner der vier Männer sprach.
»Mein Gott«, sagte Clemens plötzlich entsetzt. »Was bedeutet das? Aglaia wird doch nicht …?«
»So schnell stirbt’s sich nicht«, sagte Ferdinand ungerührt. Ein leises Weinen riss ihn aus seinen Gedanken, und da stand auch schon Elvira in der Tür, das Gesicht tränenüberströmt, aber strahlend vor Glück. Im Arm hielt sie ein in weiße Tücher eingewickeltes Bündel, aus dem nur ein kleiner schwarzer Schopf herausschaute. »Es ist ein gesunder Junge«, sagte sie.
Aglaia erholte sich schnell von der Geburt. Bei seiner Visite am folgenden Tag hatte Dr. Grüben erst das Kind und dann sie untersucht.
»Ich gratuliere dir zu deinem Stammhalter«, sagte er zu Eberhard. »Mutter und Kind sind wohlauf. Aber Aglaia sollte noch ein paar Tage das Bett hüten.« Eberhard hatte Wilhelmine eine Depesche geschickt, und bereits zwei Tage später erschien sie auf Birkenau, ganz die aufgeregte Großmutter. Aglaia stillte gerade das Kind, als ihre Mutter in ihr Zimmer stürmte. Entgeistert blieb sie in der Tür stehen. »Was machst du denn da? Hast du keine Amme?«
»Wie nett von dir, mich zu besuchen«, sagte Aglaia ungerührt. »Nimm doch Platz, Mama. Kann ich dir einen Tee bringen lassen oder einen Kaffee?« Sie nahm das Kind von der Brust und gab es Helma, die es sich auf die Schulter legte, damit es sein Bäuerchen machen konnte.
»Einen Kaffee bitte.« Wilhelmine war immer noch fassungslos. Eine Gräfin Kaulitz stillte ihr Kind selbst! Das war ja nun gar nicht comme il faut ! Aglaia klingelte und bestellte Kaffee und Gebäck. »Um deine Frage zu beantworten, Mama«, sagte Aglaia nun, »ich habe die Amme weggeschickt. Es ist ein großes Glück für mich, mein Kind selbst zu stillen.« Von Minchen Basedow sagte sie nichts, das hätte ihre Mutter nur noch mehr verwirrt.
Wilhelmine riss sich zusammen. »Schön, wenn es dir Freude macht, mein Liebes. Ich meine ja nur, ich finde es ein wenig ungewöhnlich.« Sie holte tief Luft. »Tja, ich musste natürlich sofort kommen, um dir zu gratulieren. Erzähl, wie war die Geburt? Hattest du große Schmerzen? War Elvira dir eine Hilfe – wo ist sie überhaupt?«
»Frau Gräfin lässt sich entschuldigen«, sagte Willi, der eben mit einem Tablett das Zimmer betrat. »Sie ist unpässlich und hütet das Bett.«
»Das ist aber wirklich bedauerlich«, sagte Wilhelmine leicht verschnupft. »Ich habe sie ja ewig nicht gesehen. Aber ich bin ja in erster Linie wegen dir und meinem Enkelkind hier.«
Aglaia lächelte verstohlen. Vor zehn Minuten hatte Elvira noch putzmunter bei ihr gesessen. Ganz offensichtlich wollte sie ihrer alten Freundin nicht begegnen.
»Ich hörte von Louise, dass Elvira demnächst mit Jesko nach Malta reist«, plapperte Wilhelmine nun weiter. »Ganz schön gewagt, so eine lange Reise. Vor allem, wenn es ihr nicht gut geht.«
»Ach, bis dahin wird sie schon wieder auf dem Damm sein«, lächelte Aglaia. »Aber sag, wie geht es dir, Mama? Gefällt dir dein Leben in Königsberg?«
»Ich finde es einfach wundervoll.«
»Und vermisst du Wallerstein denn gar nicht?«
Ein Schatten flog über Wilhelmines Gesicht. Aber sie fing sich sofort wieder. »Ach weißt du, mein Kind. Natürlich ist es ein anderes Leben in der Stadt. Aber ich genieße es. Ständig ist etwas los, ich empfange übrigens jetzt immer dienstags – wann kommst du mich denn mal wieder besuchen? Vielleicht sogar zusammen mit dem Kleinen?«
»Wenn ich demnächst in Königsberg bin, komme ich vorbei.«
»Wie soll er denn heißen, dein Sohn? Ich habe ein Schieberchen und eine Rassel bei Juwelier Hirsch bestellt und möchte beides gern gravieren lassen.«
»Alexander Clemens«, sagte Aglaia. »Alexander hieß Jeskos Vater, und Clemens ist Taufpate.«
»Ist das dieser Clemens von Mühlau?« Wilhelmine schien leicht irritiert. »Erwähntet ihr nicht, er sei euer Englischlehrer?«
»Ja, inzwischen ist er ein enger Freund des Hauses.« Aglaia lächelte. »Und wie Elvira bereits einmal sagte, wenn du dich etwas öfter hier sehen ließest, würdest du ihn längst kennen.«
Wilhelmine tat, als hätte sie den leisen Vorwurf nicht bemerkt, und plauderte weiter über belanglose Dinge. Als Alexander anfing zu weinen, ließ Aglaia ihn sich bringen, um ihn erneut zu stillen.
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