Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Elvira: »Du siehst elend aus. Bist du krank?«
Er winkte ab, als Willi ihm einen Tee anbot. »Lieber einen Cognac, Willi, danke.« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Nein, ich bin nicht krank. Aber sicher wisst ihr, dass die Aktienkurse dramatisch eingebrochen sind.«
»Ich hörte davon.« Auch Jesko ließ sich von Willi einen Cognac geben. »Hast du denn jetzt Probleme, Horst?«
»Ja, das kann man wohl so sagen.« Horst zündete sich umständlich eine Zigarre an, während die drei ihn erwartungsvoll ansahen. »Herzberg hatte mich schon seit längerem gewarnt«, fuhr er mit müder Stimme fort. »In letzter Sekunde habe ich dann meine Papiere abgestoßen, aber die Verluste waren gewaltig.«
»Heißt das, du musst Wallerstein verkaufen?«, fragte Aglaia entsetzt.
»Nein, mein Kind, so schlimm ist es noch nicht. Aber ich habe sofort die Renovierungsarbeiten abgebrochen. Das ist auch der Grund meines Besuchs. Ich und natürlich auch deine Mutter werden wohl in Zukunft kleinere Brötchen backen müssen.«
»Was heißt das, kleinere Brötchen backen?«, fragte jetzt Ellart, der bisher auf Elviras Schoss schweigend zugehört hatte.
»Das erkläre ich dir später«, flüsterte Elvira ihm ins Ohr. »Schau mal, Bello und Paulchen sind schon ganz unruhig. Mach doch mit ihnen einen kleinen Spaziergang zum See.« Ellart sprang auf, und er rannte mit den kläffenden Hunden in den Park.
»Sag mal, Horst, weiß Wilhelmine schon davon?«, fragte nun Elvira.
»Nein, auf meiner Rückfahrt nach Berlin werde ich sie aufsuchen. Ehrlich gesagt graut mir davor. Aber lasst uns jetzt bitte von etwas anderem reden. Wie geht es Eberhard und Alexander – wo sind die beiden überhaupt?«
»Sie sind unterwegs«, sagte Aglaia. »Wir erwarten sie jeden Moment zum Abendbrot zurück. Du bleibst doch hoffentlich, Papachen?«
»Aber gern, mein Kind.« Er strahlte seine Tochter an. Wie schön sie war, das Ebenbild ihrer Mutter, als er sie geheiratet hatte. Bald sprach man über Clemens, der regelmäßig schrieb, und Louises begeisterte Berichte von ihren Besuchen dort. Kurz darauf kamen Eberhard und Alexander zurück. Man ging sogleich zu Tisch. Eine Weile sprach man über die schwere Krankheit König Friedrich Wilhelms.
»Sein Bruder Wilhelm vertritt ihn ja sei kurzem bereits kommissarisch. Nach dem Tod des Königs wird er ihm auf den Thron folgen«, sagte Horst. »Das steht mit Sicherheit fest.« Aber bald diskutierten die Erwachsenen wieder bis spät in die Nacht über die Weltwirtschaftskrise, die so viele Menschen in großes Unglück stürzte.
Die Kinder der Basedows besuchten die Dorfschule in Schernuppen, während Alexander und Ellart von einem Privatlehrer unterrichtet wurden. Alexanders Bitte, mit seinem Freund Franz die Dorfschule besuchen zu dürfen, wurde kategorisch abgelehnt.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, hatte Eberhard entschieden gesagt, und auch Jesko, dem es schwerfiel, seinem Enkel etwas abzuschlagen, war strikt dagegen. »Nichts gegen seine Freundschaft mit dem kleinen Basedow. Das ist wirklich ein aufgeweckter, netter Junge. Aber in einer Klasse mit einem Haufen Bauernkindern unterschiedlichen Alters, das geht nun wirklich nicht. Was soll er da denn lernen außer notdürftig lesen und schreiben?«
Es hatte Tränen gegeben bei Alexander. Nur das Versprechen seines Vaters, nachmittags weiterhin mit nach Linderwies zu dürfen, wenn er vormittags fleißig lerne und von Herrn Kastner keine Klagen kämen, hatte ihn besänftigt. Herr Kastner, ein verwitweter Mann Ende vierzig, war frühzeitig aus dem Lehrerstand ausgetreten und arbeitete seit einigen Jahren als Hauslehrer. Er war klein, man konnte ihn fast zart nennen. Sein blasses, schmales Gesicht war bis auf einen kleinen Spitzbart glatt rasiert. Seine gütigen grauen Augen färbten sich dunkel, wenn einer seiner Schüler sich unbotmäßig benahm. Dann nahm er seinen Zwicker ab und fuchtelte aufgeregt damit herum. Alexander hatte er sofort in sein Herz geschlossen. Der Junge war fleißig und von schneller Auffassungsgabe, während Ellart keinerlei Lust verspürte, etwas zu lernen. Sosehr der Lehrer sich auch bemühte, es schien, als interessiere sich dieses Kind für überhaupt nichts.
Einmal im Monat musste Herr Kastner Eberhard und Aglaia über die Fortschritte seiner Schüler Bericht erstatten. »Über Alexander kann ich überhaupt nicht klagen«, sagte er gleich beim ersten Mal. »Er ist fleißig und beteiligt sich sehr interessiert am Unterricht.« Er
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