Himmel un Ääd (German Edition)
schlafwandlerisch zu Curts ehemaliger Kneipe schlurften. Dort
starrte ich eine Weile die lachenden Kinderbuddhas des Massagesalons an und
zählte die bunten Lampions vor und zurück. Nie mehr würde ich hier ein Bier
kriegen. Aber ein Bier brauchte ich jetzt.
Auf der
gegenüberliegenden Straßenseite leuchtete das rote Astra-Schild des »Limes«. Es
musste kein Kölsch sein, ein Hamburger Bier tat es auch.
Ein alter
Gastraum, mit Sankt-Pauli-Fahnen geschmückt, ein runder Tresen, hinter dem ein
Typ mit Piercings und Kapitän-Heinrich-Mütze bediente. Ich hatte schon gehört,
dass das »Limes« der Treffpunkt für Exil-Hamburger war. Rechts neben dem
Eingang ein verwaister Kicker, die Blicke der Gäste an den Tischen waren alle
auf eine Leinwand im hinteren Teil der Kneipe gerichtet. Auf der Leinwand
Fußball, ich hatte keine Ahnung, wer gegen wen. Gläser wurden über die Tische
geschoben, Erdnusstüten raschelten. Gemeinschaftliches schmerzhaftes
Aufstöhnen, dann wieder gespannte Ruhe. FC Sankt
Pauli null, Fortuna Düsseldorf eins, las ich auf dem Bildschirm. Nicht schön,
wusste ich. Dieser Spielstand einte Hamburger und Kölner Fans im Schmerz.
Keiner nahm von mir Notiz, alle folgten gebannt dem Spiel. Der kreisförmige
Tresen lag in gnädigem Schummerlicht. Auf der Zapfanlage thronte ein
Wackelhund, der jedes Mal nickte, wenn ein Bier gezapft wurde. Es gab nicht nur
Astra, es gab auch Kölsch, und nicht nur das, es gab auch Tannenzäpfle. Erfreut
bestellte ich mir ein Bier aus der Heimat.
»Du musstest dir
also auch einen anderen Ort für dein Feierabendbier suchen.«
»Taifun«, rief ich
überrascht, als ich mir meinen Thekennachbarn ansah. »Monatelang sehen wir uns
nicht und jetzt zweimal hintereinander.«
»Irgendwie
vermisse ich Curt«, seufzte er.
Bei Curt hatten
wir zwei uns kennengelernt. Zu Zeiten, als noch mehr als fünf Leute in der
»Vielharmonie« ihre Abende verbrachten.
»Ich auch.«
»Wie geht es dir?«
Den Ellenbogen auf die Theke gestützt, das Kinn in die Hand geschmiegt,
betrachtete er mich. Er war allein hier, genau wie ich.
»Das willst du gar
nicht wissen.«
»So schlimm?« In
seinem Blick blitzte Spott auf.
»Vergiss es.« Ich
trank einen Schluck Bier und wusste, dass ich sofort gehen würde, wenn Taifun
versuchte, nachzuhaken. Mir war nicht nach Herzausschütten oder Problemewälzen,
mir war nach Betäuben.
»Und selbst?«,
fragte ich.
»Ich bin letzte
Woche von einer Reise aus Ordu zurückgekommen«, erzählte er, deutlich
auskunftswilliger als ich. »Das liegt am Schwarzen Meer, eine Region, in der
man Haselnüsse anbaut. Drei Viertel aller Haselnüsse, die in Deutschland
verwendet werden, stammen aus Ordu. Ich habe für eine Reportage über
Kinderarbeit in der Türkei recherchiert. Zur Ernte werden kurdische
Saisonarbeiter eingesetzt. Zwölf-, Dreizehnjährige, sogar einen erst
achtjährigen Jungen habe ich dort getroffen.«
Ein ärgerliches
Aufstöhnen der Fußballfans übertönte Taifun. Die Düsseldorfer führten jetzt mit
zwei Toren. Taifun interessierte das nicht.
»Es ist der
übliche Kreislauf«, fuhr er fort. »Die Schokoladenkonzerne diktieren den Preis,
die Zwischenhändler drücken den Preis, die Bauern zahlen den Erntehelfern
magere Löhne, die kurdischen Familien müssen ihre Kinder zum Arbeiten
mitbringen, weil sie jeden Cent brauchen, um überleben zu können. Dabei haben
alle großen Schokoladenkonzerne schon vor Jahren eine Petition unterzeichnet,
in der sie sich verpflichten, keine Ware zu kaufen, die durch Kinderarbeit
hergestellt wird. In der Türkei ist Kinderarbeit selbstverständlich offiziell
verboten. Aber Papier ist geduldig, Gewinnmaximierung alles, unsere
Nuss-Nougat-Cremes nur deshalb so billig, weil kurdische Kinderhände zehn
Stunden am Tag Haselnüsse in Ordu pflücken.«
»Ja«, stimmte ich
ihm zu. »Und nicht nur das. Ich habe gelesen, dass in Afrika Kinder sogar
entführt und versklavt werden, um Kakaobohnen zu ernten. Die Liste der
Verbrechen der Lebensmittelindustrie ist lang!«
»Das kannst du
laut sagen!« Taifun nahm einen Schluck Bier und starrte den nickenden Hund an,
bevor er sagte: »Vergiss nicht die Privatisierung der Wasserrechte in Bolivien
auf Druck der Weltbank.«
»Oder die
weltweite Monopolisierung von Saatgut durch Monsanto«, ergänzte ich, und dann
fiel mir noch der Ackerlandkauf in Entwicklungsländern nur zum Zweck der
Spekulation ein.
»Stimmt«,
erinnerte sich Taifun. »Die dunkle Seite der
Weitere Kostenlose Bücher