Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
zur Arbeit, glattrasiert, den jugendlichen Hals im Krawattenknoten, die Tage zugebracht in unbekannten Zwängen, abends wieder daheim, um einen kritischen Blick auf das Abendessen zu werfen und die Zeitung aufzuschlagen, sie zwischen sich und das Kuddelmuddel in der Küche zu halten, zwischen sich und die Krankheiten, die Gefühle, die Babys. Wie viel sie lernen mussten, in so kurzer Zeit. Wie man vor dem Chef katzbuckelt und wie man die Ehefrau gängelt. Wie man sich sachkundig und entscheidungsfreudig zeigt, wenn es um Hypotheken, tragende Wände, Rasenmischungen, Abflussrohre und Politik geht oder gar um die berufliche Laufbahn, die den Unterhalt der Familie für das nächste Vierteljahrhundert sicherstellen muss. Die Frauen hingegen konnten es sich damals erlauben – nur tagsüber und immer eingedenk der ungeheuren Verantwortung, die die Kinder mit sich brachten –, in eine Art zweite Jugend zurückzufallen. Ein Aufatmen, wenn der Ehemann fort war. Verträumte Palastrevolutionen, subversive Zusammenkünfte, Lachkrämpfe, die ein Rückfall in die Schulzeit waren, heimliches Qualmen in den vier Wänden, für die der Ehemann aufkam, in den Stunden seiner Abwesenheit.
     
    Nach der Beerdigung waren einige in das Haus von Jonas’ Eltern in Dundarave gebeten worden. Die Rhododendronhecke stand in Blüte, rot, rosa und violett. Jonas’ Vater erhielt Komplimente für den Garten.
    »Ach, ich weiß nicht«, sagte er. »Wir mussten ihn in aller Eile auf Vordermann bringen.«
    Jonas’ Mutter sagte: »Das ist leider kein richtiges Mittagessen. Nur ein Imbiss.« Die meisten tranken Sherry, einige der Männer allerdings Whisky. Speisen waren auf dem ausgezogenen Esszimmertisch angerichtet – Lachsmousse und Cracker, Pilztörtchen, Wurstbrötchen, ein luftiger Zitronenkuchen und aufgeschnittenes Obst und Mandelkekse, dazu noch Sandwiches mit Shrimps und Schinken und Gurken- und Avocado-Scheiben. Pierre häufte alles auf seinen kleinen Porzellanteller, und Meriel hörte seine Mutter zu ihm sagen: »Weißt du, du kannst dir ohne weiteres nochmal etwas holen.«
    Seine Mutter wohnte nicht mehr in West Vancouver, sondern war aus White Rock zur Beerdigung gekommen. Und sie traute sich nicht recht, Pierre offen zu tadeln, jetzt, wo er Lehrer und ein verheirateter Mann war.
    »Oder dachtest du, dann ist nichts mehr übrig?«, fragte sie.
    Pierre sagte achtlos: »Vielleicht nicht von dem, was ich mag.«
    Seine Mutter wandte sich an Meriel. »Was für ein hübsches Kleid.«
    »Ja, aber sieh mal«, sagte Meriel und strich die Falten glatt, die sich beim Sitzen während des Trauergottesdienstes gebildet hatten.
    »Das ist das Problem«, sagte Pierres Mutter.
    »Was ist das Problem?«, fragte Jonas’ Mutter fröhlich und schob Törtchen auf die Wärmeplatte.
    »Das ist das Problem bei Leinen«, sagte Pierres Mutter. »Meriel sagte gerade, dass sich ihr Kleid verknittert hat« – sie erwähnte nicht: »während des Trauergottesdienstes« –, »und ich habe gesagt, das ist das Problem bei Leinen.«
    Möglich, dass Jonas’ Mutter nicht richtig zuhörte. Sie sah durchs Zimmer und sagte: »Das ist der Arzt, der sich um ihn gekümmert hat. Er ist mit dem eigenen Flugzeug aus Smithers hergeflogen. Wir fanden das wirklich sehr nett von ihm.«
    Pierres Mutter sagte: »Das ist ja ein ziemlich gewagtes Unternehmen.«
    »Ja. Nun, ich vermute, so reist er immer umher, um die Leute im Busch zu versorgen.«
    Der Mann, von dem sie redeten, unterhielt sich gerade mit Pierre. Er trug keinen Anzug, hatte aber ein anständiges Jackett an, über einem Rollkragenpullover.
    »Das sähe ihm ähnlich«, sagte Pierres Mutter, und Jonas’ Mutter sagte: »Ja«, und Meriel hatte das Gefühl, es sei etwas – über seine Art, sich zu kleiden? – zwischen ihnen geklärt worden.
    Sie schaute hinunter auf die Servietten, die zu Quadraten gefaltet waren. Nicht so groß wie Mittagsservietten oder so klein wie Cocktailservietten. In überlappenden Reihen so ausgelegt, dass eine Ecke jeder Serviette (diejenige, die mit einer kleinen blauen oder roten oder gelben Blume bestickt war) mit den benachbarten Ecken ein säuberliches Zickzackmuster bildete. Keine zwei Servietten, die mit derselben Blumenfarbe bestickt waren, berührten einander. Niemand hatte sie angerührt, oder wenn doch – denn sie sah einige im Zimmer mit Servietten in der Hand –, dann hatten sie sich die Servietten vom Ende der Reihe sehr vorsichtig genommen und die Ordnung bewahrt.
    Im

Weitere Kostenlose Bücher