Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
aus schlechten Elternhäusern und armen Ländern aufnehmen. Sich bemühen, deren körperliche und seelische Wunden zu heilen.
In die Kirche gehen. Einwilligen, an Gott zu glauben.
Sich die Haare kurz schneiden, kein Make-up mehr benutzen, nie wieder die Brüste in einem versteiften Büstenhalter hochzwängen.
Sie setzte sich aufs Bett, ermüdet von all diesen Spielereien, von so viel Belanglosigkeit.
Sinnvoller war, dass der Tauschhandel, an den sie gebunden war, darin bestand, so weiterzuleben wie bisher. Der Tauschhandel war schon in Kraft. Annehmen, was geschehen war, und sich darüber im Klaren sein, was geschehen würde. Tage und Jahre und Gefühle, die sich ziemlich gleich blieben, außer dass die Kinder heranwachsen würden, und vielleicht kämen noch ein oder zwei dazu, und auch die würden heranwachsen, und sie und Brendan würden älter werden und dann alt.
Erst jetzt, erst in diesem Augenblick erkannte sie ganz klar: Bisher hatte sie immer damit gerechnet, dass etwas passieren würde, etwas, das ihr Leben verändern würde. Sie hatte ihre Ehe als eine große Veränderung aufgefasst, aber nicht als die letzte.
Also ab jetzt nur noch das, was sie oder sonst jemand vernünftigerweise voraussehen konnte. Das sollte ihr Lebensglück sein, das war, was sie ausgehandelt hatte. Nichts Geheimes oder Seltsames.
Das musst du beachten, dachte sie. Sie hatte den dramatischen Einfall niederzuknien. Das ist von Bedeutung.
Elizabeth rief wieder: »Mami, komm her.« Und dann riefen auch die anderen nach ihr – Brendan und Polly und Lionel, einer nach dem anderen, und neckten sie.
Mami.
Mami.
Komm her.
* * *
Das geschah alles vor langer Zeit. In North Vancouver, als sie in dem Pfosten-und-Bohlen-Haus wohnte. Als sie vierundzwanzig Jahre alt war und noch neu im Tauschhandel.
Was in Erinnerung bleibt
In einem Hotelzimmer in Vancouver zieht Meriel als junge Frau ihre kurzen weißen Sommerhandschuhe an. Sie trägt ein beigefarbenes Leinenkleid und um das Haar einen hauchzarten weißen Schal. Um das zu der Zeit dunkle Haar. Sie lächelt, denn ihr ist etwas eingefallen, was Königin Sirikit von Thailand gesagt hat oder laut einer Zeitschrift gesagt haben soll. Ein Zitat innerhalb eines Zitats – Königin Sirikit gab wieder, was Baimain gesagt hatte.
»Baimain hat mir alles beigebracht. Er hat gesagt: ›Tragen Sie immer weiße Handschuhe. Das ist das Beste.‹«
Das ist das Beste.
Warum lächelt sie darüber? Über solch einen Ratschlag wie Gewisper, wie eine absurde und endgültige Weisheit. Ihre behandschuhten Hände wirken förmlich, aber auch sanft wie die Pfoten einer kleinen Katze.
Pierre fragt, warum sie lächelt, und sie sagt: »Ach, nichts«, dann erzählt sie es ihm.
Er fragt: »Wer ist Baimain?«
Sie machten sich fertig, um auf eine Beerdigung zu gehen. Sie waren am Vorabend von ihrem Haus auf Vancouver Island mit der Fähre herübergekommen, um ja rechtzeitig zu der morgendlichen Feierstunde zu erscheinen. Zum ersten Mal seit ihrer Hochzeitsnacht hatten sie in einem Hotelzimmer übernachtet. Wenn sie jetzt verreisten, dann immer mit den beiden Kindern, und sie hielten nach preiswerten Motels Ausschau, die familienfreundlich waren.
Dies war erst die zweite Beerdigung, der sie als Ehepaar beiwohnten. Pierres Vater und Meriels Mutter lebten nicht mehr, aber diese Todesfälle hatten sich ereignet, bevor Pierre und Meriel sich kennen lernten. Voriges Jahr war plötzlich ein Lehrer an Pierres Schule gestorben, und es gab einen schönen Gottesdienst, mit dem Knabenchor der Schule und den vierhundert Jahre alten Worten für die Grablegung der Toten. Der Mann war Mitte sechzig, sein Tod für Meriel und Pierre nur wenig überraschend und kaum traurig. In ihren Augen machte es nicht viel aus, ob man mit fünfundsechzig oder fünfundsiebzig oder fünfundachtzig starb.
Die Beerdigung heute war jedoch etwas anderes, denn es war Jonas, der beerdigt wurde. Über Jahre hin Pierres bester Freund und in Pierres Alter – neunundzwanzig. Pierre und Jonas waren zusammen in West Vancouver aufgewachsen –, sie konnten sich noch daran erinnern, wie es war, bevor die Lion’s Gate Bridge erbaut wurde, als es einer Kleinstadt ähnelte. Ihre Eltern waren befreundet. Mit elf oder zwölf Jahren hatten sie ein Ruderboot gebaut und am Dundarave Pier zu Wasser gelassen. Auf der Universität hatten sie sich eine Zeit lang getrennt – Jonas wollte Ingenieur werden, während Pierre klassische Philologie studierte,
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