Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Außerdem, obwohl sie das nicht sagte, freute sie sich auf die Zeit, in der sie dadurch von ihrer Familie fort war.
»Vielleicht kann ich dich hinfahren«, sagte Pierre. »Gott weiß, wie lange du auf den Bus warten musst.«
»Kannst du nicht«, sagte sie. »Du würdest die Fähre versäumen.« Sie erinnerte ihn an die Vereinbarung mit dem Babysitter.
Er sagte: »Du hast Recht.«
Dem Mann, mit dem er geredet hatte, dem Arzt, war nichts anderes übrig geblieben, als dieses Gespräch mit anzuhören, und er sagte unerwartet: »Wie wär’s, wenn ich Sie hinfahre?«
»Ich dachte, Sie sind mit dem Flugzeug hier«, sagte Meriel, gerade als Pierre sagte: »Das ist meine Frau, entschuldigen Sie. Meriel.«
Der Arzt nannte ihr einen Namen, den sie kaum hörte.
»Es ist nicht so leicht, mit dem Flugzeug auf dem Hollyburn Mountain zu landen«, sagte er. »Also habe ich es auf dem Flughafen gelassen und ein Auto gemietet.«
Seine Höflichkeit wirkte ein wenig gezwungen, woraufhin Meriel sofort annahm, dass sie sich unmöglich angehört hatte. Sie war häufig entweder zu keck oder zu schüchtern.
»Würde Ihnen das wirklich nichts ausmachen?«, fragte Pierre. »Haben Sie denn Zeit?«
Der Arzt sah Meriel direkt an. Es war kein unangenehmer Blick – er war nicht aufdringlich oder hinterhältig, er war nicht abschätzend. Aber er war auch nicht galant.
Er sagte: »Natürlich.«
Also einigte man sich, dass es so gemacht werden sollte. Sie würden sich langsam verabschieden, und Pierre würde zur Fähre aufbrechen, und Asher, so hieß er – oder Dr. Asher –, würde Meriel nach Lynn Valley fahren.
Meriel plante, Tante Muriel einen längeren Besuch abzustatten – vielleicht sogar bis nach dem Abendbrot bei ihr zu sitzen, dann den Bus von Lynn Valley zum Busbahnhof in der Innenstadt zu nehmen (Busse in die Stadt fuhren relativ häufig), um den letzten Bus zu kriegen, der sie auf die Fähre und nach Hause brachte.
Das Pflegeheim hieß Villa Prinzessin. Es war ein einstöckiges Gebäude mit angebauten Flügeln, rosa-braun verputzt. Die Straße war stark befahren, zum Haus gehörte kein nennenswertes Grundstück, es gab keine Hecken oder Schutzzäune, um den Lärm abzuwehren oder das Stückchen Rasen abzuschirmen. Auf der einen Seite war ein Gotteshaus mit einem Witz von Kirchturm, auf der anderen eine Tankstelle.
»Das Wort ›Villa‹ bedeutet inzwischen überhaupt nichts mehr, wie?«, sagte Meriel. »Es bedeutet nicht mal, dass es einen ersten Stock gibt. Es bedeutet lediglich, dass man denken soll, das Haus sei was, das es nicht mal zu sein vorgibt.«
Der Arzt sagte nichts – vielleicht ergab das, was sie gesagt hatte, für ihn keinen Sinn. Oder war für ihn nicht der Rede wert, selbst wenn es stimmte. Auf dem ganzen Weg von Dundarave hatte sie sich selbst reden hören, und es hatte sie erschreckt. Nicht so sehr, weil sie schwafelte – alles aussprach, was ihr gerade in den Kopf kam –, sondern weil sie versuchte, Gedanken auszudrücken, die sie interessant fand oder die vielleicht interessant gewesen wären, wenn es ihr gelungen wäre, sie in die rechte Form zu bringen. Aber derart hastig formuliert hörten sie sich wahrscheinlich überspannt, wenn nicht gar unsinnig an. Sie musste wie eine dieser Frauen wirken, die wild entschlossen waren, keine normale Unterhaltung zu führen, sondern ein
echtes Gespräch.
Und obwohl sie merkte, dass ihr alles danebenging, dass ihr Gerede ihm wie eine Zumutung vorkommen musste, konnte sie beim besten Willen nicht aufhören.
Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war. Befangenheit, einfach weil sie sich inzwischen so selten mit einem Fremden unterhielt. Die ausgefallene Situation, in einem Auto mit einem Mann allein zu sein, der nicht ihr Ehemann war.
Sie hatte sogar unbesonnen danach gefragt, was er von Pierres Annahme hielt, dass der Motorradunfall Selbstmord war.
»Diese Vermutung kann man über viele tödliche Unfälle in die Welt setzen«, hatte er geantwortet.
»Sie brauchen nicht in die Auffahrt einzubiegen«, sagte sie. »Ich kann hier aussteigen.« So verlegen war sie, so eilig hatte sie es, von ihm und seiner kaum höflichen Gleichgültigkeit fortzukommen, dass sie nach dem Türgriff fasste, als wollte sie aussteigen, noch während sie die Straße entlangfuhren.
»Ich hatte vor, das Auto abzustellen«, sagte er und bog doch in die Auffahrt. »Ich wollte Sie hier nicht aussetzen.«
Sie sagte: »Es kann eine ganze Weile dauern.«
»Das macht nichts.
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