Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Trauergottesdienst hatte der Geistliche das Leben von Jonas auf Erden mit dem Leben eines Babys im Mutterleib verglichen. Das Baby, sagte er, weiß nichts von irgendeinem anderen Leben und bewohnt seine warme dunkle Wasserhöhle ohne jede Ahnung von der weiten, hellen Welt, in die es bald hinausgestoßen wird. Und wir auf Erden haben eine Ahnung, sind aber trotzdem völlig unfähig, uns das Licht vorzustellen, in das wir eintreten werden, nachdem wir die Geburtswehen des Todes überlebt haben. Wenn das Baby irgendwie erfahren könnte, was ihm demnächst geschehen wird, wäre es dann nicht skeptisch und auch verängstigt? Und das sind wir auch meistens, aber wir sollten es nicht sein, denn uns ist Gewissheit gegeben worden. Trotzdem vermag unser blindes Hirn sich nicht vorzustellen, sich keinen Begriff davon zu machen, in was wir hinübergehen werden. Das Baby ist eingehüllt in seine Unwissenheit, in den vertrauensvollen Glauben seines stummen, hilflosen Seins. Und wir, die wir nicht gänzlich unwissend oder gänzlich wissend sind, müssen darauf achten, uns in unseren Glauben zu hüllen, in das Wort des Herrn.
Meriel sah zu dem Geistlichen hinüber, der mit einem Glas Sherry in der Hand in der Tür zur Diele stand und einer lebhaften Frau mit blondem, toupierten Haar zuhörte. Meriel hatte nicht den Eindruck, dass sie über die Qualen des Todes und das Licht danach redeten. Was würde er tun, wenn sie hinging und ihn mit diesem Thema konfrontierte?
Niemand würde sich das trauen. Oder so taktlos sein.
Stattdessen sah sie zu Pierre und dem Buschdoktor hinüber. Pierre redete mit einer jungenhaften Munterkeit, die man derzeit nicht oft bei ihm sah. Oder die Meriel nicht oft bei ihm sah. Sie beschäftigte sich damit, so zu tun, als sähe sie ihn jetzt zum ersten Mal. Sein krauses, kurz geschorenes, sehr dunkles Haar, das an den Schläfen zurückwich und die glatte, goldgetönte Elfenbeinhaut freigab. Seine breiten, spitzen Schultern und die langen, zarten Gliedmaßen und der hübsch geformte, ziemlich kleine Schädel. Er lächelte bezaubernd, aber nie aus taktischen Gründen, und schien, seit er Jungen unterrichtete, dem Lächeln gänzlich zu misstrauen. Feine Runzeln ständiger Gereiztheit gruben sich in seine Stirn.
Sie dachte an eine Lehrerparty vor über einem Jahr, bei der sie und er an entgegengesetzten Enden des Zimmers gelandet waren, ausgeschlossen von den umgebenden Gesprächen. Sie hatte sich durchs Zimmer geschlängelt, bis sie unbemerkt neben ihm stand, und dann mit ihm geredet, als sei sie eine unaufdringlich flirtende Fremde. Er hatte gelächelt, wie er jetzt lächelte – abgesehen von dem kleinen Unterschied, weil er jetzt nicht mit einer bestrickenden Frau redete, und war auf das Spiel eingegangen. Sie tauschten bedeutsame Blicke und belanglose Bemerkungen, bis sie vor Lachen herausplatzten. Jemand trat auf sie zu und teilte ihnen mit, dass Ehepaare hier nicht ihre privaten Witze machen durften.
»Was bringt Sie auf die Idee, dass wir ein Ehepaar sind?«, fragte Pierre, der sich sonst auf solchen Partys sehr angepasst verhielt.
Sie ging jetzt durchs Zimmer auf ihn zu, ohne solchen Unfug im Sinn zu haben. Sie musste ihn daran erinnern, dass ihnen bald getrennte Wege bevorstanden. Er musste zur Horseshoe Bay fahren, um die nächste Fähre zu erreichen, und sie wollte mit dem Bus rüber zum North Shore und nach Lynn Valley. Sie hatte beschlossen, diese Gelegenheit zu benutzen, um eine Frau zu besuchen, die ihre tote Mutter geliebt und bewundert hatte, nach der sie sogar ihre Tochter genannt hatte, und die Meriel immer mit Tante angeredet hatte, obwohl sie nicht blutsverwandt waren. Tante Muriel. (Als sie von zu Hause fortging aufs College, hatte Meriel die Schreibweise ihres Namens geändert.) Diese alte Frau lebte in einem Pflegeheim in Lynn Valley, und Meriel hatte sie über ein Jahr lang nicht besucht. Es kostete zu viel Zeit, im Rahmen ihrer seltenen Familienfahrten nach Vancouver dorthin zu gelangen, und die Kinder wurden von der Atmosphäre des Pflegeheims und dem Aussehen der Menschen, die dort lebten, verstört. Pierre ebenfalls, auch wenn er das nicht gerne zugab. Stattdessen fragte er, in welchem Verwandtschaftsverhältnis diese Person überhaupt zu Meriel stand.
Es ist ja nicht so, als wäre sie eine richtige Tante.
Daher wollte Meriel sie diesmal allein besuchen. Sie hatte gesagt, dass sie ein schlechtes Gewissen hätte, wenn sie diese Gelegenheit nicht nutzte, um hinzufahren.
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