Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
zeigte Grant einem seiner Kollegen, den er für einen Freund hielt, einen Brief. Der Brief stammte von der Zimmergenossin eines Mädchens, an das er eine Weile nicht gedacht hatte. Sein Stil war frömmlerisch und feindselig, auf weinerliche Art bedrohlich – er stufte die Schreiberin als latente Lesbe ein. Das Mädchen selbst war jemand, von dem er sich auf anständige Weise getrennt hatte, und es schien unwahrscheinlich, dass es ihr Wunsch war, Krach zu schlagen oder sich gar das Leben zu nehmen, was ihm der Brief offenbar durch die Blume zu sagen versuchte.
Der Kollege war einer jener Ehemänner und Väter, die mit als Erste ihre Krawatten weggeworfen hatten und von zu Hause fortgegangen waren, um jede Nacht mit einer betörenden jungen Geliebten auf einer Matratze auf dem Fußboden zu verbringen und dann ungepflegt und nach Kiff und Räucherstäbchen stinkend in ihren Büros, ihren Klassenzimmern zu erscheinen. Aber jetzt hielt er nicht mehr viel von solchen Kapriolen, und Grant erinnerte sich, dass er sogar eines dieser jungen Dinger geheiratet hatte, das dann dazu übergegangen war, Bekannte zum Abendessen einzuladen und Kinder zu kriegen, ganz wie eine altmodische Ehefrau.
»Ich würde nicht lachen«, sagte er zu Grant, der sich nicht entsinnen konnte, gelacht zu haben. »Und ich an deiner Stelle würde Fiona vorwarnen.«
Also machte Grant sich auf den Weg, um Fiona in Wiesensee aufzusuchen – dem alten Wiesensee –, und geriet stattdessen in einen Hörsaal. Alle warteten schon auf ihn und seine Vorlesung. Und in der letzten, höchsten Reihe saß eine Schar kalt blickender junger Frauen, alle in schwarzen Gewändern, alle in Trauer, die ihn unverwandt anstarrten und ostentativ nicht mitschrieben oder dem, was er sagte, Beachtung schenkten.
Fiona saß unbeschwert in der ersten Reihe. Sie hatte aus dem Hörsaal einen Winkel gemacht, wie sie ihn sich auf Partys immer suchte – ein ungestörtes Fleckchen, wo sie Wein mit Mineralwasser trank, billige Zigaretten rauchte und komische Geschichten über ihre Hunde erzählte. Wo sie sich mit einigen Leuten, die wie sie waren, gegen die Flut stemmte, als wären die Dramen, die sich in anderen Winkeln, in Schlafzimmern und auf der dunklen Veranda abspielten, nichts als kindische Komödien. Als wäre Keuschheit schick und Verschwiegenheit ein Segen.
»Ach was«, sagte Fiona. »Mädchen in dem Alter reden ständig davon, sich umbringen zu wollen.«
Aber ihre Reaktion beruhigte ihn nicht – sie jagte ihm sogar einen kalten Schauder über den Rücken. Er hatte Angst, dass sie Unrecht hatte, dass etwas Schreckliches passiert war, und er sah, was sie nicht sehen konnte – dass der schwarze Ring immer enger wurde, sich zusammenzog, um seine Kehle, um die obere Hälfte des Raumes.
Er befreite sich aus seinem Traum und machte sich daran, das Wirkliche vom Unwirklichen zu trennen.
Es hatte einen Brief gegeben, und das Wort » SCHWEIN « hatte in schwarzer Farbe auf der Tür seines Dienstzimmers gestanden, und als ein Mädchen sich fürchterlich in ihn verliebt und Fiona davon erfahren hatte, war ihre Reaktion ganz ähnlich wie die im Traum gewesen. Der Kollege hatte dabei keine Rolle gespielt, die schwarz gewandeten Frauen waren nie in seinem Klassenzimmer erschienen, und niemand hatte Selbstmord begangen. Grant war nicht öffentlich gebrandmarkt worden, er war mit einem blauen Auge davongekommen, besonders wenn man bedachte, welche Folgen das nur wenige Jahre später gehabt hätte. Aber es sprach sich herum. Man zeigte ihm die kalte Schulter. Sie erhielten nur wenige Weihnachtseinladungen und verbrachten den Silvesterabend allein. Grant betrank sich und versprach Fiona, ohne dass es von ihm gefordert wurde – und Gott sei Dank ohne den Fehler, ein Geständnis abzulegen –, ein neues Leben.
Die Scham, die er damals empfand, war die Scham, als der Dumme dazustehen, der den Wandel, der stattfand, nicht bemerkt hatte. Und keine einzige Frau hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Es hatte schon einmal einen Wandel gegeben, als plötzlich so viele Frauen zu haben waren – oder so war es ihm wenigstens vorgekommen –, und jetzt dieser neue Wandel, nun behaupteten sie, dass das, was passiert war, überhaupt nicht ihren Wünschen entsprochen hatte. Sie hatten nur mitgemacht, weil sie hilflos und durcheinander waren, und das Ganze hatte sie verletzt und ihnen keineswegs Spaß bereitet. Sogar als sie die Initiative ergriffen hatten, war das nur geschehen, weil
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