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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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und Ahornbäume warfen ihre Schatten wie Gitterstäbe auf den gleißenden Schnee.
    Fiona sagte: »Ach, weißt du noch?«
    Grant sagte: »Ich dachte auch gerade dran.«
    »Nur dass es bei Mondlicht war«, sagte sie.
    Sie sprach von dem Abend, als sie unter dem Vollmond auf dem schwarz gestreiften Schnee Ski gefahren waren, an diesem Ort, der nur im tiefsten Winter zugänglich war. Sie hatten die Äste in der Kälte knacken hören.
    Wenn sie sich daran ganz richtig und so lebhaft erinnerte, konnte es dann wirklich so schlimm um sie stehen?
    Er musste alle Kraft aufbieten, um nicht umzukehren und nach Hause zu fahren.
     
    Es gab eine weitere Regel, die die Heimleiterin ihm erklärte. Neue Heimbewohner durften während der ersten dreißig Tage nicht besucht werden. Die meisten brauchten diese Zeit, um sich einzugewöhnen. Bevor diese Regel eingeführt worden war, hatte es Proteste und Tränen und Wutausbrüche sogar von denen gegeben, die bereitwillig hergekommen waren. Um den dritten oder vierten Tag herum fingen sie an zu jammern und flehten, nach Hause geholt zu werden. Und es gab Verwandte, die dafür empfänglich waren, so dass Leute wieder nach Hause verfrachtet wurden, die dort keineswegs besser zurecht kamen als zuvor. Ein halbes Jahr später oder manchmal nur ein paar Wochen später fing der ganze verstörende Zirkus von vorn an.
    »Wohingegen wir feststellen«, sagte die Heimleiterin, »wenn sie sich selbst überlassen werden, sind sie am Ende meistens glücklich und zufrieden. Für einen Ausflug in die Stadt müssen sie regelrecht in den Bus gelockt werden. Das Gleiche gilt für einen Besuch zu Hause. Es ist völlig in Ordnung, sie dann nach Hause zu holen, für ein bis zwei Stunden – sie sind diejenigen, die sich Sorgen machen, ob sie rechtzeitig zum Abendbrot zurück sind. Wiesensee ist dann ihr Zuhause. Natürlich trifft das nicht auf die im ersten Stock zu, die können wir nicht gehen lassen. Es ist zu schwierig, und sie wissen sowieso nicht, wo sie sind.«
    »Meine Frau wird nicht in den ersten Stock kommen«, sagte Grant.
    »Nein«, sagte die Heimleiterin nachdenklich. »Ich möchte nur von Anfang an alles klarstellen.«
    Sie waren vor mehreren Jahren ein paar Mal nach Wiesensee gefahren, um Mr Farquar zu besuchen, den alten Junggesellen und Farmer, der ihr Nachbar gewesen war. Er hatte allein in einem zugigen Backsteinhaus gelebt, an dem seit Anfang des Jahrhunderts nichts verändert worden war, nur ein Kühlschrank und ein Fernseher waren hinzugekommen. Er hatte Grant und Fiona unangekündigte, aber zeitlich gut verteilte Besuche abgestattet, und neben lokalen Themen sprach er gerne über Bücher, die er gerade gelesen hatte – über den Krimkrieg oder Polarexpeditionen oder die Geschichte der Feuerwaffen. Aber nachdem er nach Wiesensee gegangen war, redete er nur noch über den Tagesablauf im Heim, und sie gewannen den Eindruck, dass ihre Besuche ihn zwar freuten, jedoch in seinem neuen Umfeld für ihn zugleich eine Last waren. Und besonders Fiona hasste den durchdringenden Geruch nach Urin und Desinfektionsmitteln, hasste die obligaten Plastikblumensträuße in den Nischen der dämmrigen, niedrigen Flure.
    Jetzt war dieses Gebäude verschwunden, obwohl es erst aus den fünfziger Jahren gestammt hatte. Ebenso wie Mr Farquars Haus verschwunden und durch eine kitschige, schlossähnliche Villa ersetzt worden war, dem Wochenendhaus von Leuten aus Toronto. Das neue Wiesensee war ein luftiges, gewölbtes Gebäude, in dem es angenehm ein wenig nach Tanne duftete. An vielen Stellen gediehen in großen Kübeln echte Grünpflanzen.
    Trotzdem ertappte Grant sich immer wieder dabei, dass er sich Fiona im alten Gebäude vorstellte, als er den langen Monat hinter sich bringen musste, ohne sie zu sehen. Es war der längste Monat seines Lebens, dachte er – länger als der Monat, den er mit seiner Mutter bei Verwandten in Lanark County verbracht hatte, als er dreizehn war, und länger als der Monat, den Jacqui Adams mit ihrer Familie im Urlaub verbracht hatte, kurz vor dem Beginn ihrer Affäre. Er rief jeden Tag in Wiesensee an und hoffte, die Schwester an den Apparat zu kriegen, die Kristy hieß. Sie schien seine Beharrlichkeit ein wenig komisch zu finden, aber sie gab ihm ausführlicher Auskunft als jede andere Schwester, an die er geriet.
    Fiona hatte sich eine Erkältung geholt, aber das war bei Neuankömmlingen nichts Ungewöhnliches.
    »Wie wenn die Kinder in die Schule kommen«, sagte Kristy. »Sie

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