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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht«, sagte sie. »Sag ihnen einfach, ich kann nicht.«
    »Du weißt, das wird sie kränken«, flüsterte er. »Sie geben sich Mühe, nett zu sein.«
    »Aber ich kann nicht. Vielleicht kannst du gehen.«
    Er beugte sich zu ihr. »Du weißt, wie das aussieht, wenn du nicht gehst. Es sieht aus, als wären sie dir nicht gut genug.«
    »Geh du.«
    »Sobald du drin bist, wird’s dir besser gehen. Die Klimaanlage wird dir bestimmt gut tun.«
    Jinny schüttelte den Kopf.
    Neal richtete sich auf.
    »Jinny meint, sie bleibt lieber hier und ruht sich im Schatten aus.«
    June sagte: »Aber sie kann sich gerne im Haus ausruhen …«
    »Ich hätte nichts gegen ein Blue einzuwenden«, sagte Neal. Er drehte sich mit schmalem Lächeln zu Jinny um. Er wirkte auf sie betrübt und zornig. »Du willst also lieber hier bleiben?«, sagte er so, dass die anderen es hören konnten. »Bestimmt? Und du hast nichts dagegen, wenn ich ein Weilchen mit reingehe?«
    »Nein, nein, keine Sorge«, sagte Jinny.
    Er legte die eine Hand auf Helens Schulter und die andere auf Junes Schulter und ging mit ihnen kameradschaftlich zum Wohnwagen. Matt lächelte Jinny neugierig zu und folgte ihnen.
    Als er diesmal die Hunde zu sich rief, bekam Jinny ihre Namen mit.
    Goober. Sally. Pinto.
     
    Der Transporter stand unter einer Reihe von Weiden. Es waren große alte Bäume, aber ihre schmalen Blätter spendeten nur flimmernden Schatten. Doch allein zu sein war eine große Erleichterung.
    Am Vormittag, auf der Fahrt von der Stadt, in der sie wohnten, hatten sie bei einem Stand am Straßenrand gehalten und Frühäpfel gekauft. Jinny holte einen aus der Tüte zu ihren Füßen und biss ein kleines Stück ab – mehr oder weniger, um zu probieren, ob sie es schmecken und schlucken und bei sich behalten konnte. Sie brauchte etwas, um gegen den Gedanken an Chili und Matts gewaltigen Bauchnabel anzukämpfen.
    Es ging gut. Der Apfel war fest und säuerlich, aber nicht zu sauer, und wenn sie ihn in kleinen Bissen aß und gut kaute, konnte es gelingen.
     
    Sie hatte Neal so – oder so ähnlich – schon ein paar Mal erlebt. Bislang immer wegen eines Jungen in der Schule. Eine Erwähnung des Namens, ganz beiläufig, sogar bagatellisierend. Ein schwärmerischer Gesichtsausdruck, entschuldigendes, dabei irgendwie trotziges Gekicher.
    Aber das war nie jemand gewesen, den sie im Haus um sich haben musste, und es war nie zu etwas gekommen. Die Strafzeit des Jungen lief ab, er ging weg.
    Auch diese Zeit würde ablaufen. Eigentlich sollte es nichts zu bedeuten haben.
    Doch sie konnte nicht anders, sie fragte sich, ob es ihr gestern weniger bedeutet hätte als heute.
    Sie stieg aus dem Transporter und ließ die Tür offen, damit sie sich am Innengriff festhalten konnte. Alles draußen war zu heiß, um auch nur für kurze Zeit Halt zu bieten. Sie musste ausprobieren, ob sie sicher auf den Beinen war. Dann ging sie im Schatten ein paar Schritte. Einige der Weidenblätter wurden schon gelb. Einige lagen auf dem Boden. Sie betrachtete aus dem Schatten die Dinge, die den Hof bevölkerten.
    Ein verbeulter Lieferwagen, dem beide Scheinwerfer fehlten und dessen Firmenname auf der Seite übermalt worden war. Ein Kinderwagen, dessen Sitz von den Hunden herausgekaut worden war, eine Fuhre Brennholz, nur hingeworfen, nicht aufgestapelt, ein Haufen riesiger Autoreifen, zahlreiche Plastikkanister, einige Ölkanister, altes Bauholz und an der Wand des Schuppens zwei zusammengeknüllte orangegelbe Plastikplanen. Im Schuppen selbst standen ein schwerer GM -Trecker, ein kleinerer ramponierter Mazda-Trecker und ein Gartentraktor, daneben ganze oder zerbrochene Gerätschaften, einzelne Räder, Schäfte und Stangen, die vielleicht noch brauchbar waren oder auch nicht, je nachdem, was für eine Verwendungsmöglichkeit einem einfiel. Für welch eine Unzahl von Dingen Menschen zuständig werden konnten! So wie sie zuständig gewesen war für die vielen Fotos, Behördenbriefe, Versammlungsprotokolle und Zeitungsausschnitte, tausend Kategorien, die sie eingerichtet und auf Disketten übertragen hatte, bis sie zur Chemo musste und alles weggeräumt wurde. Vielleicht landete es am Ende auf dem Müll. Wie all das hier, wenn Matt einmal tot war.
    Das Maisfeld, da wollte sie eigentlich hin. Der Mais stand schon hoch und überragte sie, vielleicht sogar Neal – sie wollte in seinen Schatten gelangen. Mit diesem einen Gedanken im Kopf ging sie über den Hof. Die Hunde waren wohl Gott sei Dank

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