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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zurückfahren und deine Schwester fragen. Die sagt ihn uns bestimmt. Sie muss doch bald Dienstschluss haben, dann können wir sie nach Hause fahren.«
    »Die hat Spätschicht, ha-ha.«
    Sie kamen durch einen Teil der Stadt, den Jinny noch nie gesehen hatte. Sie fuhren sehr langsam und bogen häufig ab, so dass im Auto kaum ein Luftzug zu spüren war. Eine Fabrik, die dichtgemacht hatte, Discountläden, Pfandleiher. BARGELD , blinkte eine Neonreklame über vergitterten Schaufenstern. Auch Wohnhäuser, verkommene alte Zweifamilienhäuser und die kleinen Holzhäuser, die im Zweiten Weltkrieg rasch hochgezogen worden waren. Ein winziger Hof voll Trödel – Kleidungsstücke an einer Wäscheleine, Tische, auf denen sich Geschirr und Haushaltswaren stapelten. Ein Hund schnüffelte unter einem Tisch herum und hätte ihn umstoßen können, aber die Frau, die auf der Türschwelle saß und rauchte und den Mangel an Kundschaft besichtigte, schien das nicht zu stören.
    Vor einem Eckladen leckten einige Kinder Eis am Stiel. Ein Junge am Rand der Gruppe – wahrscheinlich war er nicht älter als vier oder fünf Jahre – warf sein Eis nach dem Transporter. Ein erstaunlich kräftiger Wurf. Er traf Jinnys Tür direkt unter ihrem Arm, und sie stieß einen leisen Schrei aus.
    Helen streckte den Kopf aus dem hinteren Fenster.
    »Willst du deinen Arm in der Schlinge tragen?«
    Der kleine Junge fing an zu heulen. Mit Helen hatte er nicht gerechnet, und wohl auch nicht damit, dass sein Eis futsch war.
    Helen zog den Kopf zurück und sagte etwas zu Neal.
    »Sie verschwenden nur Ihr Benzin.«
    »Im Norden der Stadt?«, sagte Neal. »Im Süden der Stadt? Norden Süden Osten Westen, Helen sagt uns, wo’s am besten.«
    »Ich hab’s schon gesagt. Sie haben alles für mich getan, was Sie heute tun werden.«
    »Und ich hab’s dir gesagt. Wir werden deine Schuhe abholen, bevor wir nach Hause fahren.«
    Ganz gleich, mit welcher Strenge Neal sprach, er lächelte dabei. Sein Gesicht trug einen Ausdruck bewusster, aber hilfloser Albernheit. Anzeichen eines Anfalls von Glückseligkeit. Neals ganzes Wesen wurde gepackt, er strotzte von alberner Glückseligkeit.
    »Sie sind bloß stur«, sagte Helen.
    »Du wirst schon sehen, wie stur.«
    »Ich bin auch stur. Genauso stur als wie Sie.«
    Jinny hatte das Gefühl, die Glut von Helens Wange dicht neben der ihren zu spüren. Jedenfalls hörte sie den Atem des Mädchens, der vor Aufregung schwer ging und ein wenig nach Asthma klang. Helens Präsenz glich der einer Hauskatze, die man nie in einem Fahrzeug mitnehmen darf, weil sie zu nervös ist, um vernünftig zu sein, nur allzu bereit, zwischen die Sitze zu springen.
    Die Sonne hatte sich wieder durch die Wolken gebrannt. Sie stand immer noch hoch am Himmel, wie aus Messing.
    Neal lenkte den Wagen in eine Straße, die von dichten alten Bäumen und von etwas ansehnlicheren Häusern gesäumt wurde.
    »Hier besser?«, fragte er Jinny. »Mehr Schatten für dich?« Er sprach in leisem, vertraulichen Tonfall, als könne alles, was mit dem Mädchen zu tun hatte, für einen Augenblick außer Acht gelassen werden, sei nichts als reiner Unsinn.
    »Die landschaftlich schöne Strecke«, sagte er und sprach wieder lauter zum Rücksitz. »Wir fahren heute die landschaftlich schöne Strecke, Rosenrot zuliebe.«
    »Vielleicht sollten wir uns einfach auf den Weg machen«, sagte Jinny. »Vielleicht sollten wir uns einfach auf den Weg nach Hause machen.«
    Helen fiel ihr ins Wort, schrie fast. »Ich will keinen davon abhalten, nach Hause zu fahren.«
    »Dann sag mir doch einfach, wo ich lang fahren soll«, sagte Neal. Er gab sich große Mühe, seine Stimme in die Gewalt zu bekommen, etwas normale Nüchternheit hineinzulegen. Und das Lächeln zu verbannen, das sich immer wieder einstellte, ganz gleich, wie oft er es hinunterschluckte. »Los, wir fahren jetzt da hin und erledigen das mit den Schuhen, und dann geht’s nach Hause.«
    Nach einem weiteren Stück Schleichfahrt stöhnte Helen auf.
    »Wenn ich muss, dann muss ich wohl«, sagte sie.
     
    Sie brauchten gar nicht weit zu fahren. Als sie an parzelliertem Gelände vorbeikamen, sagte Neal, diesmal wieder zu Jinny: »Ich sehe weit und breit keinen Bach. Und auch keine Siedlung.«
    Jinny fragte: »Wie?«
    »Silberbachsiedlung.
Das Schild.«
    Er musste ein Schild gelesen haben, das sie übersehen hatte.
    »Abbiegen«, sagte Helen.
    »Links oder rechts?«
    »Beim Schrottplatz.«
    Sie fuhren an einem Schrottplatz vorbei,

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