Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Transporter zu, und Jinny ging ihm am Wagen entlang entgegen, eine Hand auf dem abgekühlten, aber immer noch warmen Metall, um sich abzustützen. Wenn er sie ansprach, dann sollte es nicht über ihre Pfütze hinweg sein. Und vielleicht, damit er gar nicht erst am Boden nach so etwas Ausschau halten konnte, sprach sie als Erste.
Sie sagte: »Hallo – liefern Sie etwas aus?«
Er lachte, sprang vom Rad und ließ es auf den Boden fallen, alles mit einer Bewegung.
»Ich wohne hier«, sagte er. »Ich komm grade von der Arbeit nach Hause.«
Ihr ging durch den Kopf, dass sie ihm erklären musste, wer sie war, weshalb sie hier war und für wie lange. Aber das war viel zu schwierig. So, wie sie sich am Transporter festhielt, musste sie aussehen wie jemand, der eben aus einem Unfallwagen geklettert war.
»Ja, hier wohn ich«, sagte er. »Aber ich arbeite in einem Restaurant in der Stadt. Im Sammy’s.«
Ein Kellner. Das strahlend weiße Hemd und die schwarze Hose waren seine Kellnerkleidung. Und in seinem Verhalten lag etwas von der Geduld und Achtsamkeit eines Kellners.
»Ich bin Jinny Lockyer«, sagte sie. »Helen. Helen ist …«
»Ach, ich weiß«, sagte er. »Sie sind die, für die Helen arbeiten soll. Wo ist Helen?«
»Im Haus.«
»Hat man Sie denn nicht reingebeten?«
Er war ungefähr so alt wie Helen, dachte sie. Siebzehn oder achtzehn. Schlank und wendig und übermütig, mit einer naiven Zuversicht, die ihn wahrscheinlich nicht so weit bringen würde, wie er hoffte. Sie hatte einige wie ihn gesehen, die zu jugendlichen Straftätern geworden waren.
Er schien jedoch einiges zu begreifen. Er schien zu begreifen, dass sie erschöpft war und irgendwelchen Kummer hatte.
»Ist June auch drin?«, fragte er. »June ist meine Mutter.«
Seine Haare hatten dieselbe Farbe wie die von June, goldene Strähnen über dunklem Haar. Er trug sie ziemlich lang, mit einem Mittelscheitel, so dass sie auf beiden Seiten herunterhingen.
»Matt auch?«, fragte er.
»Ja. Und mein Mann.«
»Eine Schande.«
»Nein, nein«, sagte sie. »Sie haben mich eingeladen. Aber ich habe gesagt, ich warte lieber hier draußen.«
Neal hatte manchmal welche von seinen Jujus nach Hause mitgebracht, damit sie unter seiner Aufsicht leichte Arbeiten im Garten oder im Haus verrichteten. Er fand, es sei gut für sie, zu jemandem nach Hause zu dürfen. Jinny hatte gelegentlich mit ihnen geflirtet, aber nie so, dass man es ihr zum Vorwurf machen konnte. Nur ein sanfter Tonfall, eine Art, ihnen ihre weichen Röcke und ihren Duft nach Apfelseife bewusst zu machen. Das war nicht der Grund, warum Neal sie nicht mehr mitbrachte. Man hatte ihm gesagt, das sei gegen die Vorschrift.
»Wie lange warten Sie denn schon?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jinny. »Ich trage keine Uhr.«
»Ist wahr?«, sagte er. »Ich auch nicht. Ich begegne fast nie jemand, der keine Uhr trägt. Haben Sie nie eine getragen?«
Sie sagte: »Nein. Nie.«
»Ich auch nicht. Nie. Wollte einfach nie. Weiß auch nicht, warum. Ich wollte eben nie. Ich wusste sowieso immer, wie spät es ist. Plus oder minus ’n paar Minuten. Fünf Minuten höchstens. Und ich weiß auch, wo alle Uhren sind. Ich fahr zur Arbeit und denke, mal nachsehen, wissen Sie, um sicherzugehen, wie spät es wirklich ist. Und ich kenn die erste Stelle, von wo ich die Rathausuhr zwischen den Häusern sehen kann. Nie mehr als drei, vier Minuten daneben. Manchmal fragen mich die Gäste, wie spät es ist, und ich sag’s ihnen einfach. Sie merken gar nicht, dass ich keine Uhr trage. Sobald ich kann, geh ich nachschauen, auf der Uhr in der Küche. Aber ich musste kein einziges Mal hingehen und ihnen was andres sagen.«
»Hin und wieder habe ich das auch geschafft«, sagte Jinny. »Ich nehme an, man entwickelt einen Zeitsinn, wenn man nie eine Uhr trägt.«
»Ja, das stimmt.«
»Also was meinst du, wie spät ist es jetzt?«
Er lachte. Er sah zum Himmel hoch.
»Kurz vor acht. Sechs, sieben Minuten vor acht? Ich bin aber im Vorteil. Ich weiß, wann ich Arbeitsschluss hatte, und dann hab ich mir im 7 -Eleven Zigaretten geholt, und dann hab ich ein paar Minuten mit ein paar Jungs geredet, und dann bin ich nach Hause geradelt. Sie wohnen nicht in der Stadt?«
Jinny antwortete mit nein.
»Wo wohnen Sie denn?«
Sie sagte es ihm.
»Sind Sie müde? Wollen Sie nach Hause? Soll ich reingehen und Ihrem Mann sagen, dass Sie nach Hause wollen?«
»Nein. Tu das nicht«, sagte sie.
»Schon gut, ich mach’s ja nicht. June ist
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