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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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eingesperrt worden.
    Es gab keinen Zaun. Das Maisfeld verlor sich einfach auf dem Hof. Sie ging geradewegs hinein, auf einem der schmalen Pfade zwischen den Reihen. Die Blätter streiften wie Wimpel aus Ölzeug ihr Gesicht und ihre Arme. Sie musste den Hut absetzen, damit er ihr nicht vom Kopf gerissen wurde. Jeder Stängel hatten seinen Maiskolben, wie ein Baby in einem Leichentuch. Es roch stark, fast Ekel erregend, nach pflanzlichem Wachstum, nach frischer Stärke und heißem Saft.
    Sie hatte vorgehabt, sich ins Maisfeld zu legen. Sich im Schatten dieser großen, rauen Blätter hinzulegen und nicht herauszukommen, bis sie Neal rufen hörte. Vielleicht nicht einmal dann. Aber die Reihen standen zu dicht beieinander, um das zu erlauben, außerdem musste sie zu intensiv an etwas denken, um sich die Mühe zu machen. Sie war zu wütend.
    Nicht über etwas, das sich erst vor kurzem ereignet hatte. Sie hatte sich in Erinnerung gerufen, wie eines Abends mehrere Leute auf dem Boden ihres Wohnzimmers – oder des Versammlungsraums – gehockt und eines dieser ernst gemeinten psychologischen Spiele gespielt hatten. Eines dieser Spiele, die einem angeblich dazu verhalfen, ehrlicher und härter im Nehmen zu werden. Man musste einfach das Erstbeste sagen, was einem zu den anwesenden Personen in den Sinn kam, während man sie der Reihe nach ansah. Und eine weißhaarige Frau namens Addie Norton, eine Freundin von Neal, hatte gesagt: »Ich sage dir das höchst ungern, Jinny, aber immer, wenn ich dich ansehe, fällt mir nur eins ein: prüde Zimtzicke.«
    Jinny konnte sich nicht erinnern, damals etwas erwidert zu haben. Vielleicht durfte man das nicht. Jetzt, nur im Kopf, antwortete sie: »Warum sagst du, du sagst das höchst ungern? Ist dir noch nie aufgefallen, dass Leute, die sagen, sie sagen etwas höchst ungern, es in Wirklichkeit wahnsinnig gern sagen? Meinst du nicht, wir sollten erst einmal damit anfangen, wenn wir schon so ehrlich sind?«
    Nicht zum ersten Mal hatte sie in Gedanken diese Antwort gegeben. Und Neal klargemacht, was für ein Theater dieses Spiel war. Denn hatte etwa, wenn die Reihe an Addie kam, jemand gewagt, ihr etwas Unangenehmes zu sagen? O nein. »Nicht unterzukriegen«, hatten sie gesagt, oder: »Ehrlich wie ein Schluck kaltes Wasser.« Sie hatten Angst vor ihr, weiter nichts.
    »Ein Schluck kaltes Wasser«, sagte sie jetzt laut, sarkastisch.
    Andere hatten freundlichere Dinge zu ihr gesagt. »Blumenkind« oder »Madonna von den Quellen«. Sie wusste zufällig, dass damit »Manon von den Quellen« gemeint war, aber sie verbesserte es nie. Sie war empört, weil sie dasitzen und sich anhören musste, was andere von ihr dachten. Alle hatten Unrecht. Sie war weder schüchtern noch fügsam oder natürlich oder rein.
    Wenn man starb, waren diese falschen Meinungen natürlich alles, was übrig blieb.
    Während ihr das durch den Kopf ging, hatte sie das Einfachste getan, was man in einem Maisfeld tun kann – sie hatte sich verlaufen. Sie war von einer Reihe in eine andere getreten und dann noch in eine andere und hatte dabei die Richtung verloren. Sie versuchte, auf dem Weg zurückzugehen, den sie gekommen war, aber es war offensichtlich nicht der Richtige. Es hingen wieder Wolken vor der Sonne, also konnte sie nicht erkennen, wo Westen war. Außerdem hatte sie keine Ahnung, in welche Richtung sie gegangen war, als sie in das Feld hineinlief, also hätte ihr das ohnehin nicht geholfen. Sie blieb stehen und hörte nichts als das Wispern der Maisstauden und fernen Verkehr.
    Ihr Herz hämmerte geradeso wie irgendein Herz, das noch viele Jahre Leben vor sich hatte.
    Dann ging eine Tür auf, sie hörte die Hunde bellen und Matt brüllen und die Tür zuknallen. Sie wandte sich diesen Geräuschen zu und bahnte sich einen Weg durch die Stängel und Blätter.
    Und es stellte sich heraus, dass sie gar nicht weit gegangen war. Sie war die ganze Zeit in einer kleinen Ecke des Feldes herumgestolpert.
    Matt winkte ihr zu und schickte die Hunde weg.
    »Keine Angst vor denen, bloß keine Angst«, rief er. Er ging ebenso wie sie auf den Wagen zu, nur aus einer anderen Richtung. Als sie sich näher kamen, sprach er leiser, vielleicht auch vertraulicher.
    »Sie hätten doch kommen und klopfen können.«
    Er dachte, sie sei ins Maisfeld gegangen, um auszutreten.
    »Ich hab grad zu Ihrem Mann gesagt, ich geh mal raus und schau nach Ihnen.«
    Jinny sagte: »Alles bestens. Danke.« Sie stieg in den Transporter, ließ aber die Tür

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