Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
einem gewissen Grade log, denn er schaute durchaus in diese Bücher, hin und wieder einmal, wenn er Zeit hatte.
Es war meine Hoffnung, solch eine Lüge nie wieder aussprechen zu müssen, solche Verachtung der Dinge, die mir wahrhaft wichtig waren, nicht mehr vortäuschen zu müssen. Und um das zu erreichen, musste ich mich von den Leuten, die ich von früher kannte, wohl oder übel fern halten.
Am Ende des zweiten Jahres verließ ich das College – mein Stipendium hatte nur eine Laufzeit von zwei Jahren. Aber das machte nichts – ich hatte ohnehin vor, Schriftstellerin zu werden. Und ich wollte heiraten.
Alfrida hatte davon gehört und setzte sich wieder mit mir in Verbindung.
»Ich nehme an, du hattest zu viel zu tun, um mich zurückzurufen, oder vielleicht sind dir meine Anrufe nie ausgerichtet worden.«
Ich erklärte beides für möglich.
Diesmal willigte ich ein, sie zu besuchen. Ein Besuch würde mich zu nichts verpflichten, da ich plante, die Stadt zu verlassen. Ich wählte einen Sonntag gleich nach meinen Abschlussprüfungen, an dem mein Verlobter zu Bewerbungsgesprächen in Ottawa weilte. Der Tag war hell und sonnig – es war Anfang Mai. Ich beschloss, zu Fuß zu gehen. Ich war kaum je südlich der Dundas Street oder östlich der Adelaide gewesen, es gab also Stadtviertel, die mir völlig fremd waren. Die Bäume entlang der nördlichen Straßen schlugen gerade aus, der Flieder, die Zierapfelbäume und die Tulpenbeete standen alle in Blüte, die Rasenflächen bildeten frische Teppiche. Aber nach einer Weile ging ich durch Straßen, in denen keine Bäume standen, Straßen, in denen die Häuser auf den schmalen Bürgersteig drängten und der kümmerliche Flieder – Flieder wächst eben überall – blass war, wie von der Sonne ausgebleicht, und kaum duftete. In diesen Straßen standen nicht nur Ein- oder Mehrfamilienhäuser, sondern auch schmale Mietshäuser, nur zwei oder drei Stockwerke hoch, manche mit dem bescheidenen Schmuck einer Backsteineinfassung um die Haustür und mit hochgeschobenen Fenstern, aus denen schlaffe Gardinen über die Fensterbretter hingen.
Alfrida lebte in einem Mehrfamilienhaus, nicht in einem Mietshaus. Sie bewohnte das gesamte Obergeschoss. Im Erdgeschoss, zumindest im vorderen Teil, war ein Laden eingerichtet worden, der zuhatte, denn es war Sonntag. Ein Laden für Trödel – durch die schmutzigen Schaufenster erspähte ich viele unscheinbare Möbel, beladen mit Stapeln von altem Geschirr und Küchenutensilien. Der einzige Gegenstand, der mir ins Auge fiel, war ein Honigeimer, genau wie der Honigeimer mit blauem Himmel und goldenem Bienenkorb, in dem ich meine Pausenbrote in die Schule mitgenommen hatte, als ich sechs oder sieben Jahre alt war. Ich erinnerte mich noch genau daran, was auf der einen Seite geschrieben stand.
Jeder reine Honig wird mit der Zeit granulieren.
Ich hatte keine Ahnung, was »granulieren« bedeutete, aber ich mochte den Hang des Wortes. Es klang für mich blumig und köstlich.
Ich hatte für den Weg mehr Zeit gebraucht als geplant, und mir war sehr heiß. Ich hatte nicht erwartet, dass Alfrida, als sie mich zum Lunch einlud, vorhatte, mir eine Mahlzeit wie die Sonntagsfestessen zu Hause vorzusetzen, aber es roch nach Braten und Gemüse, als ich die Außentreppe emporstieg.
»Ich dachte schon, du hast dich verirrt«, rief Alfrida von oben. »Ich wollte gerade einen Suchtrupp losschicken.«
Statt eines Sonnenkleides trug sie eine rosa Bluse mit einer lappigen Schleife am Hals und einen braunen Faltenrock. Ihr Haar war nicht mehr zu glatten Rollen frisiert, sondern kurz geschnitten und um ihr Gesicht gekräuselt, sein Dunkelbraun war mit grellem Rot getönt. Und ihr Gesicht, in meiner Erinnerung mager und sonnengebräunt, war voller geworden und ein wenig schlaff. Ihr Make-up hob sich von ihrer Haut ab wie orangerosa Wandfarbe im Mittagslicht.
Aber der größte Unterschied war, dass sie inzwischen ein Gebiss trug, mit Zähnen von einheitlicher Farbe, die ihren Mund nahezu überfüllten und ihrer alten Miene rescher Unbekümmertheit etwas Ängstliches verliehen.
»Na, du bist aber pummelig geworden«, sagte sie. »Dabei warst du früher klapperdürr.«
Das stimmte, aber ich hörte es nicht gern. Wie alle anderen Mädchen im Wohnheim aß ich billiges Zeug – kalorienreiche Kraft-Fertiggerichte und ganze Rollen marmeladegefüllte Kekse. Mein Verlobter, der so standhaft und besitzergreifend alles an mir verteidigte, sagte, dass er üppige
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