Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
eine immer größer werdende Stacheldrahtrolle aus Wörtern zu sehen, verschlungen, verwirrend, unbehaglich – ganz im Gegensatz zu den reichen Hervorbringungen, den Mahlzeiten, den Blumen und den Stricksachen aus dem häuslichen Wirken anderer Frauen. Es fiel mir dann schwerer, zu sagen, dass es die Mühe wert war.
Für mich ja, vielleicht, aber was war mit anderen?
Mein Vater hatte gesagt, dass Alfrida jetzt allein lebte. Ich fragte ihn, was aus Bill geworden war. Er sagte, all das sei außerhalb seiner Zuständigkeit. Aber es habe wohl so etwas wie eine Rückholaktion gegeben.
»Von Bill? Wie das? Durch wen?«
»Ich glaube, es gab da eine Ehefrau.«
»Ich habe ihn mal bei Alfrida kennen gelernt. Ich mochte ihn.«
»Das ging wohl vielen so. Besonders Frauen.«
Ich musste in Betracht ziehen, dass der Bruch vielleicht gar nichts mit mir zu tun hatte. Meine Stiefmutter hatte meinen Vater in ein neues Leben gedrängt. Sie gingen zum Kegeln und zum Eisschießen und trafen sich regelmäßig mit anderen Ehepaaren zu Kaffee und Doughnuts im Tim Horton’s. Sie war schon lange verwitwet, als sie ihn heiratete, und hatte aus dieser Zeit viele Freunde, die für ihn neue Freunde wurden. Was mit ihm und Alfrida geschehen war, konnte auch ganz einfach eine der Veränderungen, der Abnutzung von alten Bindungen sein, die ich in meinem eigenen Leben nur zu gut verstand, aber im Leben älterer Menschen nicht erwartete – besonders nicht, wie ich gesagt hätte, im Leben der Menschen daheim.
Meine Stiefmutter starb nur wenige Zeit vor meinem Vater. Nach ihrer kurzen glücklichen Ehe wurden sie auf getrennte Friedhöfe verfrachtet, um neben ihren ersten, schwierigeren Partnern zu liegen. Vor dem Tod beider zog Alfrida wieder in die Stadt. Sie verkaufte das Haus nicht, sie verließ es einfach und ging weg. Mein Vater schrieb mir: »Eine reichlich komische Art, es anzugehen.«
Zur Beerdigung meines Vaters erschienen viele Menschen, darunter etliche, die ich nicht kannte. Eine Frau kam auf dem Friedhof über den Rasen, um mich anzusprechen – ich hielt sie anfangs für eine Freundin meiner Stiefmutter. Dann sah ich, dass die Frau mir nur wenige Jahre voraushatte. Durch ihre untersetzte Figur und die aufgetürmten graublonden Löckchen und die geblümte Jacke sah sie älter aus.
»Ich habe Sie von dem Foto her erkannt«, sagte sie. »Alfrida hat immer mit Ihnen angegeben.«
Ich fragte: »Alfrida ist tot?«
»Aber nein«, sagte die Frau und erzählte mir, dass Alfrida in einem Pflegeheim in einer Stadt gleich nördlich von Toronto lebte.
»Ich habe sie dahin gebracht, damit ich ein Auge auf sie haben kann.«
Jetzt war leicht zu erkennen – sogar an ihrer Stimme –, dass sie meiner eigenen Generation angehörte, und mir fiel ein, dass sie eine aus der anderen Familie sein musste, eine Halbschwester von Alfrida, geboren, als Alfrida schon fast erwachsen war.
Sie nannte ihren Namen, und es war natürlich nicht Alfridas Familienname – sie musste geheiratet haben. Und ich konnte mich nicht entsinnen, dass Alfrida je eines ihrer Halbgeschwister mit Vornamen erwähnt hatte.
Ich erkundigte mich nach Alfridas Befinden, und die Frau sagte, ihre Augen seien so schlecht, dass sie praktisch blind sei. Und sie sei schwer nierenkrank, was bedeute, dass sie zweimal wöchentlich zur Dialyse müsse.
»Aber ansonsten …?«, sagte sie und lachte. Ich dachte, ja, eine Schwester, denn ich hörte etwas von Alfrida in diesem unbekümmerten, herausgeschleuderten Lachen.
»Also kann sie schlecht reisen«, sagte sie. »Sonst hätte ich sie mitgebracht. Sie kriegt immer noch die Zeitung von hier, und ich lese ihr manchmal daraus vor. Dadurch hab ich das mit Ihrem Vater gesehen.«
Impulsiv fragte ich mich laut, ob ich sie im Pflegeheim besuchen sollte. Die Gemütsregungen der Beerdigung – all die warmen und erleichterten und versöhnlichen Gefühle, die der Tod meines Vaters in angemessenem Alter in mir geweckt hatte – gaben mir diesen Vorschlag ein. Er wäre schwer durchzuführen gewesen. Meinem Mann – meinem zweiten Mann – und mir blieben nur zwei Tage, bevor wir zu einem bereits verschobenen Urlaub nach Europa flogen.
»Ich weiß nicht, ob Sie viel davon haben würden«, sagte die Frau. »Sie hat ihre guten Tage. Dann wieder hat sie ihre schlechten Tage. Man weiß nie. Manchmal denke ich, sie macht einem was vor. Dann sitzt sie den ganzen Tag da, und egal, was man zu ihr sagt, sie antwortet immer
Weitere Kostenlose Bücher