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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Gewohnheiten. Kalt und sprachlos, seiner beraubt.
     
    Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit klopfte Ed Shore an ihre Hintertür. In den Händen hielt er eine Schachtel mit Asche und einen Strauß weißer Rosen.
    Als Erstes gab er ihr die Asche.
    »Ach«, sagte sie. »Schon fertig.«
    Sie spürte eine Wärme durch den dicken Karton. Sie war nicht sofort zu spüren, sondern erst allmählich, wie die Wärme des Blutes unter der Haut.
    Wo sollte sie damit hin? Nicht auf den Küchentisch, neben ihr spätes, kaum angerührtes Abendbrot. Rühreier und Salsa, eine Zusammenstellung, auf die sie sich immer gefreut hatte, wenn Lewis aus irgendeinem Grund länger bleiben musste und mit den anderen Lehrern im Tim Horton’s oder im Wirtshaus zu Abend aß. Heute Abend hatte sich das als schlechte Wahl erwiesen.
    Auch nicht auf die Anrichte. Der Karton würde aussehen wie etwas Sperriges vom Lebensmitteleinkauf. Und nicht auf den Fußboden, wo er leichter zu ignorieren war, aber den Eindruck machen konnte, er sei auf einen niederen Platz abgeschoben – enthielte etwas wie Katzenstreu oder Gartendünger, etwas, das nicht zu dicht beim Geschirr und den Nahrungsmitteln stehen sollte.
    Eigentlich wollte sie ihn in ein anderes Zimmer bringen, ihn irgendwo in den dunklen Vorderzimmern des Hauses abstellen. Besser noch in einem Fach im Schrank. Aber es war irgendwie zu früh für diese Verbannung. Außerdem wurde sie von Ed Shore beobachtet, und es könnte aussehen wie ein rascher und brutaler Schlussstrich, eine geschmacklose Einladung.
    Schließlich stellte sie die Schachtel auf das niedrige Telefontischchen.
    »Aber Sie stehen ja immer noch«, sagte sie. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«
    »Ich habe Sie beim Essen gestört.«
    »Ich mochte sowieso nicht mehr.«
    Er hielt immer noch die Blumen in der Hand. Sie fragte: »Sind die für mich?« Das Bild: Er mit dem Blumenstrauß, das Bild: Er mit der Asche in der Schachtel und dem Blumenstrauß, als sie die Tür aufmachte – es kam ihr grotesk vor, als sie es jetzt bedachte, und entsetzlich komisch. Es war etwas, worüber sie hysterisch werden konnte, wenn sie es jemandem erzählte. Wenn sie es Margaret erzählte. Sie hoffte, sie werde es nie tun.
    Sind die für mich?
    Sie konnten ebenso gut für die Toten sein. Blumen für das Totenhaus. Sie sah sich nach einer Vase um, ließ dann Wasser in den Kessel laufen und sagte: »Ich wollte mir gerade einen Tee machen«, begab sich wieder auf die Suche nach der Vase und fand sie, füllte sie mit Wasser, fand die Schere, die sie brauchte, um die Stiele anzuschneiden, und nahm ihm schließlich die Blumen ab. Dann merkte sie, dass sie das Gas unter dem Kessel gar nicht angestellt hatte. Sie konnte sich kaum beherrschen. Ihr war zumute, als könnte sie ohne weiteres die Rosen auf den Boden werfen, die Vase zertrümmern, das erstarrte Zeug auf ihrem Teller zwischen den Fingern zerdrücken. Aber warum? Sie war nicht wütend. Es war nur so irrsinnig anstrengend, eins nach dem anderen zu tun. Jetzt musste sie die Kanne vorwärmen, überlegen, wie viel Tee sie nehmen sollte.
    Sie sagte: »Haben Sie gelesen, was Sie aus Lewis’ Tasche geholt haben?«
    Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. Sie wusste, dass er log. Er log, er war erschüttert, wie weit wollte er in ihr Leben eindringen? Was, wenn sie zusammenbrach und ihm von der Überraschung erzählte, die sie empfunden hatte – warum es nicht zugeben, von der Kälte um ihr Herz –, als sie sah, was Lewis geschrieben hatte? Als sie sah, dass das alles war, was er geschrieben hatte.
    »Egal«, sagte sie. »Es waren nur ein paar Verse.«
    Sie waren zwei Menschen ohne mittleres Terrain, nichts zwischen höflichen Förmlichkeiten und einer verschlingenden Intensität. Was zwischen ihnen gewesen war, all die Jahre, war durch ihre beiden Ehen im Gleichgewicht gehalten worden. Ihre Ehen waren der wahre Inhalt ihres Lebens – Ninas Ehe mit Lewis, der manchmal raue und schwierige, unentbehrliche Inhalt ihres Lebens. Dieses andere war in seiner Süße, seinem Trostversprechen nur wegen ihrer Ehen möglich. Es war wohl kaum etwas, das aus eigener Kraft bestehen konnte, selbst wenn beide frei gewesen wären. Dennoch war es nicht nichts. Die Gefahr bestand darin, es auszuprobieren und es zerfallen zu sehen und dann zu glauben, dass es nichts gewesen war.
    Sie hatte das Gas angestellt, die Teekanne vorgewärmt. Sie sagte: »Das war sehr lieb von Ihnen, und ich habe mich noch nicht mal bei Ihnen

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