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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Rohrkolben wuchsen – sie waren jetzt vertrocknet, dünn und winterlich. Es wuchs auch Schwalbenwurz, dessen leere Samenkapseln wie Muscheln glänzten. Alles war unter dem Mond deutlich umrissen. Sie roch Pferde. Ja – da standen zwei ganz in der Nähe, massige schwarze Gestalten hinter den Rohrkolben und dem Zaun des Farmers. Sie rieben ihre großen Körper aneinander und beobachteten sie.
    Sie öffnete die Schachtel und steckte die Hand in die abkühlende Asche und warf oder streute sie – mit kleinen, widersetzlichen Teilchen des Körpers – zwischen die Pflanzen am Straßenrand. Dies zu tun war wie das Hineinwaten in den See für das erste eisige Bad im Juni und sich dann ins Wasser stürzen. Anfangs ein Übelkeit erregender Schock, dann Staunen, dass man sich immer noch bewegte, getragen von einem Strom eiserner Hingabe – ruhig an der Oberfläche des eigenen Lebens, immer noch da, obwohl der Schmerz der Kälte weiterhin in den Körper drang.

Nesseln
    Im Sommer des Jahres 1979 spazierte ich in die Küche des Hauses meiner Freundin Sunny in der Nähe von Uxbridge, Ontario, und sah einen Mann am Küchentisch stehen und sich ein Ketchup-Sandwich machen.
    Später bin ich in diesem Hügelland nordöstlich von Toronto mit meinem Mann umhergefahren – mit meinem zweiten Mann, nicht mit dem, den ich in jenem Sommer verließ – und habe nach dem Haus gesucht, vergebens, aber hartnäckig, habe die Straße ausfindig zu machen versucht, in der es stand, aber es ist mir nie gelungen. Wahrscheinlich ist es abgerissen worden. Sunny und ihr Mann verkauften es ein paar Jahre nach meinem Besuch bei ihnen. Für einen bequemen Sommeraufenthalt war es zu weit von Ottawa weg, wo sie wohnten. Und als die Kinder größer wurden, maulten sie, wenn es hieß hinzufahren. Außerdem gab es am Haus für Johnston – Sunnys Mann – ständig etwas zu tun, wohingegen er am Wochenende lieber Golf spielte.
    Ich habe den Golfplatz gefunden – ich glaube, es ist der richtige, obwohl die verwilderten Ränder ordentlich hergerichtet worden sind und ein feudaleres Clubhaus dasteht.
     
    In der ländlichen Gegend, wo ich meine Kindheit verbrachte, versiegten im Sommer die Brunnen. Das passierte alle fünf bis sechs Jahre, wenn es zu wenig geregnet hatte. Diese Brunnen waren nichts weiter als in den Boden gegrabene Löcher. Unser Brunnen war ein tieferes Loch als die meisten anderen, aber wir brauchten immer reichlich Wasser für unsere Käfigtiere – mein Vater züchtete Silberfüchse und Nerze –, also rückte eines Tages der Brunnenbauer mit eindrucksvollem Gerät an, und das Loch wurde vertieft, weiter und immer weiter in die Erde hinein, bis er im Gestein Wasser fand. Von da an konnten wir klares, kaltes Wasser hochpumpen, ganz egal, welche Jahreszeit herrschte, und ganz egal, wie trocken die Witterung war. Das war etwas, worauf wir stolz sein konnten. An der Pumpe hing immer ein Blechbecher, und wenn ich an einem glühend heißen Tag daraus trank, dachte ich an schwarzes Gestein mit Wasser, das funkelte wie Diamanten.
    Der Brunnenbauer – manchmal wurde er Brunnengräber genannt, als wäre es zu mühsam, genau zu benennen, was er tat, und als wäre die alte Bezeichnung bequemer – war ein Mann namens Mike McCallum. Er wohnte in der Stadt ganz in der Nähe unserer Farm, aber er hatte dort kein Haus. Er wohnte im Hotel Clark – da war er seit dem Frühjahr untergebracht und blieb, solange es in diesem Teil des Landes etwas für ihn zu tun gab. Dann zog er weiter.
    Mike McCallum war jünger als mein Vater, aber er hatte einen Sohn, der ein Jahr und zwei Monate älter war als ich. Dieser Junge wohnte mit seinem Vater zusammen in Hotelzimmern oder Pensionen, je nachdem, wo sein Vater gerade arbeitete, und ging auf irgendeine Schule, die gerade zur Verfügung stand. Er hieß ebenfalls Mike McCallum.
    Ich weiß genau, wie alt er war, denn das ist etwas, was Kinder sofort klarstellen, als eines der wesentlichen Dinge, um herauszufinden, ob sie Freunde sein können oder nicht. Er war neun, und ich war acht. Er hatte im April Geburtstag, ich im Juni. Die Sommerferien hatten schon angefangen, als er mit seinem Vater bei uns eintraf.
    Sein Vater fuhr einen dunkelroten Laster, der immer dreckbespritzt oder staubig war. Mike und ich krabbelten in die Fahrerkabine, wenn es regnete. Ich weiß nicht mehr, ob sein Vater dann in unsere Küche ging, um zu rauchen und eine Tasse Tee zu trinken, oder ob er sich unter einen Baum stellte

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