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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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um hineinzuspringen, mit den Schreien von Tieren, die sich auf ihre Beute stürzen, nach einem rasenden Lauf durchs hohe Gras. Wären wir zeitiger im Jahr dran, sagte Mike, als in den Gruben das Wasser noch höher stand, hätten wir ein Floß bauen können.
    Dieses Vorhaben wurde im Hinblick auf den Fluss in Betracht gezogen. Aber der Fluss war im August beinahe eher eine steinige Straße als ein Wasserweg, und statt zu versuchen, darauf zu treiben oder darin zu schwimmen, zogen wir die Schuhe aus und wateten – sprangen von einem kahlen knochenweißen Stein zum anderen und rutschten auf den schleimigen Steinen unter der Oberfläche aus, pflügten durch das Geflecht flachblättriger Seerosen und anderer Wasserpflanzen, deren Namen ich nicht mehr weiß oder nie wusste (Wilder Pastinak, Wasserschierling?). Sie wuchsen so dicht, dass sie aussahen, als müssten sie auf Inseln verwurzelt sein, auf festem Land, aber tatsächlich wuchsen sie aus dem Faulschlamm, und unsere Füße verfingen sich in ihren schlangenartigen Wurzeln.
    Dieser Fluss durchquerte auch die Stadt, und wenn wir flussaufwärts liefen, kamen die zwei Bögen der Highway-Brücke in Sicht. Allein oder nur mit Ranger dabei war ich nie bis zur Brücke gegangen, denn da trieben sich meistens Leute aus der Stadt herum. Sie kamen, um von der Brücke aus zu angeln, und wenn der Fluss genug Wasser führte, kletterten Jungen aufs Geländer und sprangen hinein. Das würden sie jetzt kaum tun, aber es war mehr als wahrscheinlich, dass welche unten bei der Brücke im Wasser planschten – großmäulig und feindselig, wie die Stadtkinder immer waren.
    Landstreicher konnten ebenfalls da lungern. Aber davon sagte ich nichts zu Mike, der vor mir herging, als wäre die Brücke ein ganz normales Ziel ohne irgendetwas Bedrohliches oder Verbotenes. Stimmen drangen zu uns, und ganz wie ich erwartet hatte, waren es die Stimmen von Jungen, die herumschrien – als gehörte ihnen die Brücke ganz allein. Ranger war bis dahin ohne Begeisterung mitgekommen, aber jetzt machte er sich davon, hinunter zum Ufer. Er war zu der Zeit schon ein alter Hund, der Kinder nie unterschiedslos gemocht hatte.
    Ein Mann saß da und angelte, nicht von der Brücke, sondern vom Ufer aus, und fluchte, weil Ranger das Wasser aufwühlte, als er wieder an Land kam. Der Angler fragte uns, warum wir unseren Scheißköter nicht zu Hause ließen. Mike ging einfach weiter, als hätte der Mann uns nur zugepfiffen, und dann gelangten wir in den Schatten der Brücke, in dem ich noch nie im Leben gewesen war.
    Der Boden der Brücke war unser Dach, mit Streifen von Sonnenlicht zwischen den Bohlen. Und jetzt fuhr ein Auto über die Brücke, es klang wie Donnergrollen und löschte das Licht aus. Wir standen für dieses Ereignis still und sahen hoch. Unter-der-Brücke war ein eigener Ort, nicht nur ein kurzes Stück vom Fluss. Als das Auto fort war und die Sonne wieder durch die Spalten schien, bildete die Spiegelung des Wassers oben an den Betonbögen sonderbare Lichtwellen und Lichtblasen. Mike rief etwas, um das Echo auszuprobieren, und ich tat es ihm nach, aber nur leise, denn die Jungen am Ufer, die Fremden auf der anderen Seite der Brücke, jagten mir mehr Angst ein, als Landstreicher es getan hätten.
    Ich ging in die Dorfschule nicht weit von unserer Farm. Die Schülerzahlen dort waren so geschrumpft, dass ich in meiner Klasse das einzige Kind war. Aber Mike war seit dem Frühjahr auf die Stadtschule gegangen, und diese Jungen waren für ihn keine Fremden. Er hätte wahrscheinlich mit ihnen gespielt und nicht mit mir, wenn sein Vater sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, ihn an seine Arbeitsstellen mitzunehmen, damit er – hin und wieder – ein Auge auf ihn haben konnte.
    Es müssen einige Begrüßungsworte gewechselt worden sein, zwischen diesen Stadtjungen und Mike.
    He. Was willst du denn hier?
    Nichts. Was wollt ihr hier?
    Nichts. Wer ist die bei dir?
    Niemand. Bloß die.
    Bloß die. Öh-öh.
    Es war nämlich ein Spiel im Gang, das die Aufmerksamkeit aller in Anspruch nahm und Mädchen mit einschloss – ein Stück weiter waren Mädchen mit Eigenem beschäftigt –, obwohl wir alle aus dem Alter heraus waren, in dem Gruppen von Jungen und Mädchen üblicherweise zusammen spielen. Vielleicht waren sie den Jungen aus der Stadt hinaus nachgegangen – natürlich, ohne es sich anmerken zu lassen oder die Jungen waren ihnen nachgekommen, mit irgendeiner Schikane im Sinn, aber als sich alle

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