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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zusammenfanden, hatte irgendwie dieses Spiel Gestalt angenommen und die Mitwirkung aller erfordert, und so waren die üblichen Schranken gefallen.
    Es war ein Kriegsspiel. Die Jungen hatten sich in zwei Armeen geteilt, die gegeneinander kämpften, im Schutz von Barrikaden, die grob aus Ästen und Zweigen errichtet worden waren, und auch im Schutz des rauen, scharfkantigen Grases sowie der Binsen und Wasserpflanzen, die uns überragten. Die Waffen, das waren Kugeln aus Tonerde, Lehmbälle etwa in der Größe von Basebällen. Zufällig war eine geeignete Lehmquelle vorhanden, eine graue, ausgehöhlte, halb von Pflanzen verborgene Grube ein Stückchen die Uferböschung hinauf (ihre Entdeckung mochte zu dem Spiel geführt haben), und an dieser Stelle arbeiteten die Mädchen und stellten die Munition her. Man quetschte und klopfte den klebrigen Lehm zu einer Kugel zusammen, die so hart wie möglich sein musste – es durfte ein bisschen Kies drin sein, auch Bindemittel wie Gras, Blätter und kleine Zweige, an Ort und Stelle aufgesammelt, aber keine absichtlich reingekneteten Steine –, und es waren sehr viele dieser Bälle erforderlich, denn jeder taugte nur für einen Wurf. Es war verboten, die Bälle, die danebengegangen waren, aufzuheben und neu zu formen und noch einmal zu werfen.
    Die Regeln des Krieges waren einfach. Wenn man von einem Ball – sie hießen offiziell Kanonenkugeln – ins Gesicht, am Kopf oder Körper getroffen wurde, musste man tot umfallen. Wenn man an den Armen oder Beinen getroffen wurde, musste man hinfallen, aber man war nur verwundet. Dann hatten die Mädchen die Aufgabe, hinzukrabbeln und die verwundeten Soldaten zu einer platt getrampelten Stelle zu schleppen, die als Lazarett diente. Blätter wurden auf ihre Wunden gepflastert, und sie mussten still liegen und bis hundert zählen. Danach durften sie aufstehen und weiterkämpfen. Die toten Soldaten durften nicht aufstehen, bis der Krieg zu Ende war, und der Krieg war erst; zu Ende, wenn auf einer Seite alle tot waren.
    Die Mädchen hatten sich ebenso wie die Jungen in zwei Parteien geteilt, aber es waren längst nicht so viele Mädchen wie Jungen da, und so konnten wir nicht als Munitionshersteller und Krankenschwestern nur für einen Soldaten fungieren. Es gab jedoch Bündnisse. Jedes Mädchen hatte einen eigenen Stapel Bälle und arbeitete für bestimmte Soldaten, und wenn ein Soldat verwundet hinfiel, dann rief er den Namen dieses Mädchens, damit es ihn so schnell wie möglich wegschleppte und seine Wunden verarztete. Ich stellte Waffen für Mike her, und Mike rief meinen Namen. Es herrschte ein derartiger Lärm – ständig ertönten Schreie »Du bist tot!«, entweder triumphierend oder empört (empört, weil natürlich immer welche, die eigentlich tot waren, versuchten, sich in den Kampf zurückzustehlen), dazu das Gebell eines Hundes, nicht Ranger, der irgendwie ins Schlachtgetümmel geraten war – ein derartiger Lärm, dass alle Mädchen unablässig auf die Stimme des Jungen lauschten, der ihren Namen rief. Wenn der Ruf kam, war man elektrisiert, ein Draht schwirrte durch den ganzen Körper, ein fanatisches Gefühl der Ergebenheit. (Zumindest war es für mich so, die ich im Gegensatz zu den anderen Mädchen in den Diensten nur eines Kriegers stand.)
    Ich glaube auch nicht, dass ich je zuvor so in einer Gruppe gespielt hatte. Es war eine helle Freude, Teil einer großen und heldenmütigen Unternehmung zu sein, und darin auserwählt, verpflichtet, einem Kämpfer zur Seite zu stehen. Als Mike verwundet wurde, blieb er mit geschlossenen Augen still und schlaff liegen, während ich die schleimigen großen Blätter auf seine Stirn und seinen Hals drückte und – nachdem ich sein Hemd aus der Hose gezogen hatte – auf seinen blassen, zarten Bauch mit dem lieben und verletzlichen Bauchnabel.
    Niemand gewann. Das Spiel zerfiel nach langer Dauer in Streitereien und Massenwiederauferstehungen. Wir versuchten, uns auf dem Heimweg vom Lehm zu befreien, indem wir uns flach ins Flusswasser legten. Unsere Hemden und kurzen Hosen waren verdreckt und klatschnass.
    Es war später Nachmittag. Mikes Vater wollte gerade aufbrechen.
    »Verdammte Scheiße«, sagte er.
    Wir hatten einen Tagelöhner, der kam und meinem Vater half, wenn geschlachtet wurde oder irgendeine Mehrarbeit anfiel. Er hatte ein ältliches, jungenhaftes Gesicht und atmete auf keuchende, asthmatische Art. Er packte mich gern und kitzelte mich, bis ich zu ersticken meinte.

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