Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
Niemand mischte sich dabei ein. Meiner Mutter gefiel das nicht, aber mein Vater sagte ihr, das sei nur Scherz.
    Er war im Hof und half Mikes Vater.
    »Ihr zwei habt euch im Dreck gewälzt«, sagte er. »Und wisst ihr was, jetzt müsst ihr heiraten.«
    Meine Mutter hörte das hinter der Fliegengittertür. (Wenn die Männer gewusst hätten, dass sie da stand, hätten beide nicht so geredet.) Sie kam heraus und sagte etwas zu dem Tagelöhner, mit leiser, vorwurfsvoller Stimme, bevor sie sich zu unserem Aussehen äußerte.
    Ich hörte teilweise, was sie sagte.
    Wie Bruder und Schwester.
    Der Tagelöhner schaute auf seine Stiefel und grinste verlegen.
    Sie hatte Unrecht. Der Tagelöhner war der Wahrheit näher gekommen als sie. Wir waren nicht wie Bruder und Schwester, oder nicht wie irgendein Geschwisterpaar, das ich je gesehen hatte. Mein einziger Bruder war noch ein Kleinkind, also hatte ich in der Hinsicht keine eigenen Erfahrungen. Und wir waren nicht wie die Ehepaare, die ich kannte, die vor allem alt waren und in so getrennten Welten lebten, dass die Partner einander kaum wiederzuerkennen schienen. Wir waren wie ein festes und altgewohntes Liebespaar, dessen Bindung nicht viel äußeres Bekunden brauchte. Und für mich wenigstens war das heilig und aufwühlend.
    Ich wusste, dass der Tagelöhner von Sex redete, obwohl ich das Wort »Sex« damals wohl noch nicht kannte. Und dafür hasste ich ihn noch mehr als ohnehin schon. Genau genommen hatte er Unrecht. Es ging uns nicht um irgendein Herzeigen und Rubbeln, um ein schuldbeladenes Geheimnis – da war nichts von der ängstlichen Suche nach einem geeigneten Versteck, nichts von der herumspielenden Wonne, dem Unbefriedigtsein und den sofort danach einsetzenden heftigen Schamgefühlen. Solche Szenen hatten für mich mit einem Vetter stattgefunden und mit zwei etwas älteren Mädchen, Schwestern, die auf meine Schule gingen. Ich mochte diese Partner weder vor noch nach dem Ereignis und leugnete wütend ab, sogar vor mir selbst, dass etwas Derartiges stattgefunden hatte. Solche Eskapaden wären niemals mit jemandem in Frage gekommen, dem ich irgend Zuneigung oder Achtung entgegenbrachte – nur mit solchen, die mich anekelten, ebenso, wie ich mich nach diesen lüsternen, widerwärtigen Spielereien selbst anekelte.
    In meinen Gefühlen für Mike hatte sich der örtlich begrenzte Dämon in eine diffuse Erregung und Zärtlichkeit verwandelt, die sich überall unter der Haut ausbreitete, ein Genuss der Augen und Ohren und eine kribbelnde Zufriedenheit in der Gegenwart des anderen. Ich wachte jeden Morgen hungrig auf, hungrig auf seinen Anblick, auf das Geräusch des Lasters, mit dem sein Vater auf dem Feldweg angerumpelt kam. Ohne es je zu zeigen, betete ich seinen Nacken und seine Kopfform an, die Wölbung seiner Augenbrauen, seine langen, nackten Zehen und seine schmutzigen Ellbogen, seine laute und selbstbewusste Stimme, seinen Geruch. Ich akzeptierte bereitwillig, sogar mit Hingabe, die Rollen, die nicht erklärt oder zwischen uns ausgehandelt werden mussten – dass ich ihm beistehen und ihn bewundern würde und dass er führen und mich jederzeit beschützen würde.
     
    Und eines Morgens kam der Laster nicht. Eines Morgens war natürlich die Arbeit beendet, der Brunnen abgedeckt, die Pumpe wieder installiert und das frische Wasser bestaunt worden. Zum Mittagessen standen zwei Stühle weniger am Tisch. Der jüngere und der ältere Mike nahmen bis dahin diese Mahlzeit mit uns zusammen ein. Der jüngere Mike und ich, wir redeten dabei nie miteinander und sahen uns kaum an. Er tat sich gern Ketchup aufs Brot. Sein Vater redete mit meinem Vater, und das Gespräch drehte sich meistens um Brunnen, Unfälle und Grundwasserspiegel. Ein ernsthafter Mann. Geht ganz in seiner Arbeit auf, sagte mein Vater. Doch er – Mikes Vater – beendete nahezu alles, was er sagte, mit einem Lachen. In diesem Lachen klang ein einsames Dröhnen auf, als sei er immer noch unten im Brunnen.
    Sie kamen nicht. Die Arbeit war getan, es gab keinen Grund für sie, je wiederzukommen. Und wie sich herausstellte, war das der letzte Auftrag, den der Brunnenbauer in unserem Teil des Landes zu erledigen hatte. Anderswo warteten weitere Aufträge auf ihn, und er wollte so bald wie möglich dorthin, um das anhaltend schöne Wetter auszunutzen. Bei seinem Leben in Hotels konnte er einfach seine Sachen packen und abreisen. Und genau das hatte er getan.
    Warum verstand ich nicht, was geschah? Gab es keinen

Weitere Kostenlose Bücher