Himmel und Hölle
genauso diszipliniert wie ich. Da schenkten wir uns nichts. Keine Sekunde wurde vertändelt oder verbummelt, wir arbeiteten einfach zäh jeden Tag und jede Nacht ab, in der Hoffnung, dass das Leben uns irgendwann wieder auf die Sonnenseite katapultieren würde.
Als Ärztin hatte ich schon viel Leid gesehen - nun hatte es mich getroffen. Ohne Stefan wäre ich zusammengebrochen, aber mit ihm war es zu schaffen. Sein eiserner Wille und sein völlig sachlicher Umgang mit meiner Krankheit schützten mich vor Jammern und Selbstmitleid, aber auch davor, in ein tiefes Loch der Depression zu fallen.
»Frau Doktor Kuchenmeister?«
Ich stand gerade mit meiner ausgebeulten Jogginghose, aus der die Drainage-Schläuche hingen, an der Waschmaschine und belud sie mit einem Haufen Babysachen.
»Frau Doktor!«
Die Weißen nach rechts, die Bunten nach links, zwang ich mich, meinen Haushaltsjob fortzusetzen. Stefan und ich schliefen damals nie mehr als zwei Stunden am Stück, und das nie gleichzeitig, geschweige denn nebeneinander. Von anderen Dingen ganz zu schweigen. Wie sagt meine Mutter immer? Alles hat seine Zeit.
Die erste Stunde seines Tiefschlafs verbrachte Stefan bei unserer traumatisierten Tochter im rosaroten Prinzessinnenbett, während ich an Konstantins Gitterbett bereits beim Gutenachtsagen zusammengeklappt war. Wir bemühten uns mit aller Kraft, unseren beiden »Großen« das Gefühl von Nähe und Geborgenheit zu geben. Die zweiten zwei Stunden der Nacht verbrachte jeder von uns mit einem Zwilling im Arm - er auf dem Sofa im Wohnzimmer und ich im Schlafzimmer im Bett. Wenn dann um fünf Uhr früh der Wecker klingelte und ich mich zum Frühstückmachen und in die Kinderzimmer schleppte, war ich geistig noch lange abwesend.
»Frau Doktor Kuchenmeister!«
Ich drehte mich um. Wo war denn hier eine Frau Doktor Kuchenmeister? Kenne ich nicht.
Die männliche Stimme kam von der Haustür her, die Nicole geöffnet hatte, und fuhr fort: »Ich habe hier ein Einschreiben, Sie müssen bitte unterzeichnen!«
Oh Gott, nein. Ich kann nicht. Wie viele Stufen? Und wie sehe ich aus? Auch wenn es nur der Briefträger war: Ich wollte ihm so nicht unter die Augen treten.
Nicole kam die Kellertreppe hinuntergesprungen. Ihren Anblick gönnte ich dem Briefträger durchaus.
Das Einschreiben kam aus Leipzig. Mit der Universitätsklinik Leipzig und Frau Dr. Biding aus Chicago hatten wir die Chemotherapie ausgetüftelt. Frau Professor Biding hatte Stefan bei einer Sitzung des Stadtplanungsausschusses in Passau kennengelernt, wo sie zufällig nebeneinander im Publikum saßen. So hart das Leben damals zu uns war: Diese Bekanntschaft verschaffte uns Zugang zu einer neuartigen, wirkungsvollen Chemotherapie, die es bei uns in Deutschland zu der Zeit noch nicht gab. Der Spezialist der Northwestern University hatte für meine Behandlung eine wöchentliche Dosis von 40 mg/m 2 Cisplatin vorgeschlagen, und Professor Aigner hatte das abgenickt. So verdanke ich Frau Dr. Biding viel - möglicherweise mein Leben.
»Schauen Sie mal genau hin. Sie können sie auch gerne mal anfassen!«
»Na, also wirklich! Die fühlt sich total echt an!«
»Ich kann Ihnen nur radn: echds Haar!«
»Sie haben recht. Kunsthaar sieht total scheußlisch aus.«
Die beiden Frauen, zwischen denen ich saß, griffen sich über meinen Kopf hinweg gegenseitig in die Haare und prüften die Beschaffenheit ihrer Perücken.
Ich saß in der Nürnberger Ambulanz für Chemotherapie und konnte es nicht fassen: Eine sah so scheiße aus wie die andere! Und die Perücken waren so was von potthässlich, dass ich mir schwor, mich niemals
auf so einen Unsinn einzulassen. Wenn ich denn eines Tages eine Glatze hätte, würde ich sie vornehm unter einem Hermès-Tuch verstecken. Das hat Caroline von Monaco damals auch gemacht, als alle rätselten, warum sie auf einmal keine Haare mehr hatte. Wenn sie tatsächlich eine Krebstherapie machte, war es ihr wirklich verdammt gut gelungen, das vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Zunächst hatte ich mich geweigert, mich überhaupt auf eine Chemotherapie einzulassen. Erstens hatte ich überhaupt keine Zeit, in Wartezimmern herumzusitzen und mir das Perückengeschwätz meiner Leidensgenossinnen anzuhören. Und zweitens glaubte ich fest an Professor Aigners gründliche Arbeit.
»Wenn der vernünftig operiert hat, und davon gehe ich aus, war das so radikal, dass eine Nachbestrahlung reicht«, hatte ich Stefan erklärt.
»Aber denk doch mal an
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