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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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gewählt. Wo es doch eine A-Lösung gab! Ja, hatte ich denn bei Stefan gar nichts gelernt? Er hatte übrigens immer für die Zwillingsgeburt bei Aigner plädiert. Das ist wohl typisch Mann: Eine leichte Stimmungseintrübung sollte doch kein Hindernis sein, nicht wahr?
    »Das ist doch ein Wahnsinn!«, regte sich Stefan auf. »Da übersehen die beim Kaiserschnitt einen Tumor, der so groß ist wie eine Zigarettenschachtel?!« Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und drehte sich um die eigene Achse. »Wenn in Amerika bei einer Patientin ein Wattetupfer im Bauch vergessen wird, verklagt sie den Chirurgen auf dreißig Millionen Dollar!«
    Auch vorsorgliche Abstriche während der Schwangerschaft waren nicht als auffällig wahrgenommen worden.
    »Ob Sie als Ärztin die Kollegin verklagen, ist Ihre Sache. Das geht mich nichts an.«
    Professor Aigner beschäftigte sich weiter mit meiner Nachuntersuchung.
    »Wie ist die OP gelaufen?«, fragte ich ihn, mehr als Kollegin denn als Patientin.
    »Gut.«
    »Sagen Sie mir die Wahrheit, Professor. Ich kann damit umgehen.«
    Er sah mich über seinen Brillenrand hinweg an.

    »Für den Pfannenstielschnitt lag der Tumor zu tief. Wir mussten daher einen hohen interiliakalen Querschnitt ansetzen und haben ihn weit ausgenutzt. Die Spaltung des hinteren Blatts der Rektusscheide erfolgte bis zum Nabel hinauf. Wir haben einen großen Tumor an der Beckenwand entfernt, den wir zunächst für eine Beckenniere gehalten haben. Da aber beide Nieren an ordnungsgemäßer Stelle waren, rechneten wir mit einer sehr großen Metastase. In der retroperitonealen Technik wurde zunächst alles beweglich gemacht mit Durchtrennung der Bänder, Resektion des ovariellen Gefäßstiels nach Abstopfen des Darms und Öffnung der Beckenwände. Wir haben das Bauchfell durchtrennt und die Blase beidseits anpräpariert. Dissektion auch hinter der Kommunis hoch und medial präsacral. Im Einzelnen haben wir die Arteria iliaca externa aus der Tumorverklebung herausgeschält. Die Arteria iliaca interna ist aber derart in den Metastasenkomplex hineingelaufen, dass wir sie abtragen mussten. Den Tumor haben wir aus dem Becken ausgebracht.«
    »Das war kein Kinderspiel«, sagte ich und tat so, als wäre ich als Ärztin hier und nicht als Patientin. »Ich schätze, Sie haben die Rektumpfeiler reintegriert, auf dem Rücklauf auch das Douglasperitoneum an der Scheide fixiert, dadurch die Beckenhöhle wieder zweigeteilt und auch eine gute Fixierung der Scheide erreicht?«
    »Genau, Frau Kollegin. Das übliche Prozedere: Ausschälung und Lateralisierung sowie Caudalisierung des Ureters, und dann haben wir die Metastase vom
restlichen paravaginalen und parazervialen Gewebe abgetragen und gesondert fotografiert.«
    »Gute Arbeit, Chef!«, sagte ich anerkennend, während ich kurz einen Blick auf die Fotografie warf. Ich konnte sowieso nichts erkennen.
    »Lassen Sie mal sehen!« Stefan beugte sich bereits über das Foto. »Sechs mal sieben Zentimeter Durchmesser hatte die Metastase! Ein Wahnsinn!«
    »Frau Doktor Meier haben wir gleich mal rausgeschickt«, fuhr der Professor fort. »Die ist mir ja hinter ihrem grünen Tuch fast umgekippt, als sie sah, wie groß der Tumor wirklich ist.«
    Es war schlagartig ruhig im Zimmer.
    Deshalb hatte der Professor bis zu einem Nerv am Bein schneiden müssen.
    »Ich konnte aber Ihren Plexus pelvicus erhalten, das heißt, Ihre Blase wird irgendwann wieder selbstständig arbeiten.«
    Na toll!, dachte ich, dann bin ich wenigstens nicht inkontinent und nässe mich beim Einkaufen oder auf Elternabenden plötzlich ein. Super, dass ich ohne Windeln weiterleben darf.
    »Wann kann ich meine Kinder wieder stillen?«, bohrte ich nach.
    »Vergessen Sie das, Frau Kuchenmeister. Ihre Kinder werden es überleben. Jetzt geht es aber um Ihr Leben. Tun Sie jetzt, was ich Ihnen sage. Keine Widerrede.« Professor Aigner beugte sich zu Stefan herab, der auf meiner Bettkante saß, und erklärte ihm das Foto.
    Das fand ich unglaublich beeindruckend von dem
Professor. Ausgerechnet Stefan, der ihn angeschrien und beschimpft hatte, als mein damaliger Chef mich nicht hatte gehen lassen wollen! Er hätte ihn komplett ignorieren können. Er hätte ihn aus dem Zimmer schicken können. Aber er hatte die menschliche Größe, ihn als meinen Ehemann zu respektieren.
    Jetzt stand ihm das pure Mitleid ins Gesicht geschrieben.
    Ich sah ihn noch vor mir, wie er damals, im ersten Lehrjahr 1995, über der OP zu mir gesagt hatte:

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