Himmel und Hölle
ein letztes Mal stillen, so viel Zeit lassen wir uns.«
Montag, der 20. September 2004. Der gefürchtete Tag war gekommen. Die Beruhigungstablette, die mir Schwester Marlies reichte, lehnte ich ab. Die Kinder sollten keine Drogen bekommen. Ich hielt mich an meinen Knirpsen fest, die gierig und hungrig an meinen Brüsten saugten. Auch ohne Tranquilizer wurde ich ganz ruhig. Das Leben würde weitergehen. Auch ohne mich.
Nicole stand an der Wand und war genauso weiß wie sie. Ich streckte die Hand nach ihr aus.
»Nicole«, krächzte ich. »Wenn ich hopps gehe bei dieser Angelegenheit …«
»Hören Sie auf! Bitte, hören Sie auf!«
»Du sollst nur wissen, dass ich mir keine bessere Ersatzmutter für meine Kinder vorstellen kann. Heirate Stefan.«
»Quatsch!«, sagte Nicole und weinte.
Ich weinte auch. Meine Tränen tropften auf meine beiden Sprösslinge herunter.
»Sie können sich auf mich verlassen«, schluchzte Nicole. Sie streichelte Charlines Köpfchen und sah mir fest in die Augen. »Ich bin bei den Kindern. Egal, was passiert.«
»Ich weiß!« Wir drückten uns so fest die Hand, dass es wehtat.
Die Tür ging auf.
»Wir wären dann so weit!«
Der Professor hatte bereits seine grüne Kluft angezogen und den Mundschutz aufgesetzt. Er sah aus wie damals. Wie mein vertrauter, bärbeißiger Chef.
Eine tiefe Ruhe breitete sich in mir aus. Wenn nicht er, wer dann?
Neben ihm stand noch jemand.
»Alles wird gut«, hörte ich Stefans vertraute Stimme. »Ich verspreche es dir. Du schaffst das. Ich bin bei dir.« Er und Nicole packten die Zwillinge gemeinsam in den Kinderwagen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stakste eine verheulte Nicole auf ihren High Heels davon.
»Du schaffst das, Konstanze«, hörte ich Stefan sagen, während ich langsam wegdämmerte. »Gib nicht auf. Denk an deine Kinder. Träum dich ans Ziel. Träum dich nach Venedig, nach Paris und nach Cannes.«
Sie schoben mich in den OP.
28
Als ich fünf Stunden später aufwachte, lag ich auf der Intensivstation.
Vorsichtig versuchte ich mich zu bewegen. Mein linkes Bein war taub. Dann war das Ding doch größer, als ich dachte, ging es mir durch den Kopf. Dann ist da was am Nerv gemacht worden. Denn dass Professor Aigner aus Versehen einen Nerv erwischt, war ausgeschlossen. Während ich noch versuchte, die Augen zu öffnen, hörte ich Stefans Stimme ganz nah an meinem Ohr.
»Du hast es geschafft, Konstanze!«
Oh, hallo. Willkommen im Leben.
»Wo sind die Kinder?«
»Nicole ist mit ihnen in deinem Zimmer. Sie weigern sich, etwas anderes als Muttermilch zu sich zu nehmen. Wir haben alles versucht, Flasche, Schnuller …«
In mir regten sich sofort neue Kräfte. Ich wollte aufstehen, konnte mich aber nicht rühren.
»Warum liege ich denn auf der Intensivstation?«
»Du hast nur ein bisschen mehr Blut verloren als gedacht. Aber du schaffst das, du bist jung und kräftig, das sagen hier alle. Professor Aigner sagt, du bist eine Löwenfrau.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass mehrere Kollegen im Raum waren. Ihre Gesichter nahm ich nur verschwommen wahr.
Professor Aigner betrat den Raum. Ohne Stefan zu beachten, setzte er sich zu mir ans Bett. »Na, wie geht es denn unserer Löwenfrau?«
»Warum kann ich mein linkes Bein nicht bewegen?«, brachte ich mühsam heraus.
»Ach, das Ding war ein bisschen verwachsen. Letztlich war es doch größer als eine Zigarettenschachtel.« Professor Aigner atmete tief ein. »Sie haben ja leider nicht bei mir entbunden. Die Kollegin hätte den Tumor beim Kaiserschnitt eigentlich entdecken müssen!«
»Na ja, man hat mir schon gesagt, dass die Zervix derb sei. Ich habe das sogar selbst festgestellt, aber ich dachte …«
»Sie dachten was?«
»Ich dachte, dass ich mir so eine Krankheit einfach nicht leisten kann. Und dann habe ich sie verdrängt. Schon wegen meiner Kinder. Ich wollte das einfach nicht wahrhaben. Der Pap-Abstrich war damals schließlich nur II und völlig okay.«
»Warum sind Sie denn nicht früher zu mir gekommen, Kollegin?«
»Ich dachte, Sie sind mir böse …«
»Und DESWEGEN verschleppen Sie wissentlich so eine MEGA-Katastrophe?« Der Professor sprang auf und fuhr sich fassungslos durch die Haare. »Schon jemals was vom hippokratischen Eid gehört?«
Ich schämte mich schrecklich. Wegen der Nähe zu einer Kinderklinik hatte ich ein anderes Krankenhaus vorgezogen, anstatt beim fähigsten und besten gynäkologischen Operateur weit und breit zu entbinden. Ich hatte die B-Lösung
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