Himmel und Hölle
das Restrisiko!«, hatte Stefan eingewandt.
Er hatte sich natürlich inzwischen bei einem Dutzend Ärzten, im Internet und in tausend Büchern alles Wissen über meinen Krebs angelesen. Inzwischen hätte er seinen Doktor vor demselben Prüfungskomitee, vor dem ich damals in München über Gebärmutterhalskrebs geplaudert hatte, mit summa cum laude bestanden.
Trotzdem: Krebs ist kein Spaß. Krebs ist lebensbedrohlich, heimtückisch und unberechenbar. Krebs streut. Selbst nach einer noch so gründlichen Operation kann sich der heimtückische Krebs bereits in anderen
Organen eingenistet haben - winzig klein noch, mit bloßem Auge nicht erkennbar - und sich so lange dort verstecken, bis der Patient sich wieder in Sicherheit wähnt. Nur um dann aus dem Hinterhalt noch brutaler zuzuschlagen. Mit dieser entsetzlichen Angst, die mich und meine Familie beherrschen und lähmen würde, wollte und konnte ich nicht leben. Eine Chemotherapie ließ sich also nicht vermeiden, dazu hatte auch Professor Aigner geraten:
»Sie wollen leben. Sie wollen für Ihre Kinder weiterleben. Sie dürfen kein einziges Prozent Restrisiko eingehen!«
Also CHEMO. Das volle Programm. Bei einer Chemo sind Haarausfall, Übelkeit, Nieren- und Hörschäden so die klassischen Nebenwirkungen. Das wusste ich - schließlich hatte ich das ganze Elend schon an meinen Patientinnen gesehen. Eine meiner kleinsten Sorgen war, dass meine durchaus bemerkenswerten Beine durch die Chemo auf ein Mehrfaches anschwellen würden. Ich war wirklich auf alles gefasst.
Andererseits war mir von dem Spezialisten aus Leipzig die beste aller möglichen Therapien angeboten worden, und da zauderte ich nicht lange. Hauptsache leben! Meine Kinder und mein Mann würden mich auch mit Elefantenbeinen, Glatze, kotzend über der Toilette, schlapp und halb tot lieben. Sie brauchten mich. Ich würde kämpfen, das schwor ich mir, und ich würde es schaffen.
Deswegen saß ich nun hier in der Chemotherapie
und wartete darauf, dass man mir Gift in die Arme tropfte.
Die Übelkeit, die sich bei mir natürlich prompt einstellte, war etwas, womit ich noch am besten umgehen konnte. Schon während der Schwangerschaften hatte ich mit einem Trick, den Stefan mir beigebracht hatte, gearbeitet: Immer wenn mir übel wurde, schaute ich auf das Armband, das Stefan mir geschenkt hatte, und sagte mir: »Dir wird nicht übel. Dir KANN gar nicht übel werden, denn du hast ja dieses Armband, das dein Mann dir geschenkt hat, der dich liebt. Wie KANN dir denn übel werden, wenn du weißt, dass DIESER Traummann dich liebt?«
Dieses Armband gab mir tatsächlich so viel Kraft, dass es mir oft gelang, die Übelkeit zu unterdrücken. Und wenn ich mich doch übergeben musste: Leute, man gewöhnt sich dran! Lady Di ging zwischendurch auch mal schnell kotzen. So gesehen befand ich mich mit meiner Übelkeit und meinem Haarausfall in bester, adeliger Gesellschaft!
Doch noch saß ich zwischen den beiden Perückenträgerinnen im Wartezimmer, als eine davon pikiert von mir abrückte.
Unter meinem Stuhl hatte sich eine Pfütze gebildet, und es tröpfelte aus meinem linken Hosenbein.
Man hatte mir zum Nierenschutz je zwei Liter Vorwässerung und Nachwässerung eingetrichtert. Und die blieben leider nicht dort, wo sie hingehörten - erst recht nicht bei einer Blase, die nach der Operation noch schwächelte …
Von welcher prominenten Persönlichkeit ich mir in diesem Moment innerlich Kraft für meine Inkontinenz holen sollte, fiel mir im Moment allerdings auch nicht ein.
Während der Chemo hing ich für mehrere Stunden am Tropf. Das Gift, das mir in die Venen gejagt wurde, sollte den Tumor ein für alle Mal vernichten. Allerdings vernichtete es auch alles andere: meine Haare, meine Haut, meine schlanken Beine, meine Magenwände, meine Blase, mein … Selbstwertgefühl?! Ich war eine schöne junge Frau in der Blüte ihres Lebens. Eine Frau, die studiert und geackert hatte, um endlich zu ernten, was sie gesät hatte. Eine Ehefrau und Mutter von vier Kindern. Eine Ärztin, die dabei zusehen konnte, wie sie von innen heraus zerstört wurde. Gift. Gift. Gift.
Nein! Das Gift ist gut für mich!, hämmerte ich mir ein und programmierte mein Denken um. Es ist gut für mich, es hilft mir, es macht mich gesund. Ich werde wieder für meine Kinder da sein, ich werde wieder für meine Patientinnen da sein. Ich werde wieder eine fröhliche strahlende Ehefrau sein. Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels!
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