Himmel und Hölle
würde. Um dann an einem Dreizehnten operiert zu werden.
Wieso ich? Wieso schon wieder ich? Waren das die beiden letzten Tage meines Lebens? Oder nur die beiden letzten Tage mit sechsunddreißig? Wenn ich - jemals - wieder aufwachte.
Ich stand wie vor den Kopf geschlagen im Eingang des Klinikums, während Stefan das Auto holte. Kalte Luft schlug mir entgegen, und es fiel Schneeregen. Ich zog meinen Schal enger um den Hals. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich wusste nur eines: Ich gehe jetzt für die Knirpse Schneehosen und Winterschuhe kaufen. Als Stefan vorfuhr, ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen. Auf der Fahrt in die Erlanger Innenstadt sprachen wir beide kein Wort. Anschließend waren wir wie in Trance, als uns die Kaufhausrolltreppe in die Kinderetage trug. Ich stand völlig neben mir und sah mir selbst dabei zu, wie ich zwischen den Winterhosen herumwühlte. Wie ich zwei weiße und zwei braune Hosen in den richtigen Größen auswählte, sie zur Kasse trug und mich in die Schlange der Wochenendkäufer einreihte. Um mich herum nichts als ungeduldige, graue, gestresste Gesichter. Zwei Hausfrauen vor mir stritten sich, wer zuerst mit dem Bezahlen dran war.
»Ich hab meine Zeit auch nicht gestohlen«, keifte die eine. Ich auch nicht, dachte ich. Glauben Sie mir.
»Weggegangen, Platz vergangen«, zürnte die andere.
»Ich war nur noch mal bei den Söckchen! Das ist noch lange kein Grund, sich vorzudrängeln!«
Wenn ihr wüsstet!, dachte ich. Was ihr für Sorgen habt!
Stefan sah sich währenddessen bei den Winterschuhen um, bis er vier Paar gefunden hatte. Mit ausdruckslosem Gesicht stellte er sich neben mich.
»Schon wieder einer, der sich vordrängelt«, hieß es jetzt. »Stellen Sie sich hinten an, junger Mann!«
»Wir gehören zusammen!«
Ja, das weiß ich ganz genau. Wir gehören zusammen.
»Dann stellen Sie sich zusammen hinten an!«
Ich hatte nicht mehr die Kraft, mich mit dem Spießer anzulegen, und selbst Stefan trottete schweigend ans Ende der Schlange.
Dass Stefan sich kleinkriegen ließ! Dass Stefan nicht verhandelte und diskutierte! So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er musste total am Ende sein.
Da standen wir und starrten ins Leere. Unglaublich, was man alles völlig mechanisch tun kann, wenn man davon ausgehen muss, dass man am Montag vielleicht nicht mehr lebt.
Schweigend liefen wir mechanisch durch die Fußgängerzone. Ich durfte nicht nach Hause, und Stefan konnte nicht. Schon wieder ohne Mama auftauchen? Schon wieder vertrösten? Wie sollten wir das bloß den Kindern beibringen? Wir brauchten noch ein bisschen Zeit. Wir ließen uns bis zum Weihnachtsmarkt treiben, wo sich eine Verkaufsbude an die andere reihte. Es roch nach Lebkuchen, Pizza, Glühwein und gebratenen Zwiebeln. Von allem wurde mir schlecht. Ein schnulziger Schlagersänger sang »Süßer die Glocken nie klingen!«, eine Kindereisenbahn klingelte, und ein paar Rentner standen an der Bratwurstbude und schoben sich Brötchen mit Senf in den Mund. Nebenan trank man Glühwein. Vor den plaudernden Menschen bildeten sich fröhliche Atemwölkchen, Nasen liefen, es wurde laut gelacht und sich gegenseitig auf die Schultern geklopft.
All das klang so schrill in meinen Ohren, und die Farben waren so grell! Ja, jetzt spürte ich ihn, den Krebs in meinem Kopf. Bald würde alles zu Ende sein.
So oder so.
Zum Italiener gingen wir nicht mehr. Stattdessen saßen wir schweigend in der Neurochirurgie.
Ein kleines Weihnachtsbäumchen stand im Eingangsbereich der Station. Wie schön wir alle zusammen hätten Weihnachten feiern können! Die Kinder waren fünf und drei Jahre sowie zwei mal acht Monate alt. Unser erstes Weihnachten mit vier Kindern. Nun fand es nicht statt. Würde es jemals stattfinden?
Konstantin sollte seinen ersten Fußball bekommen, Catherine ein hölzernes Puppenhaus. Charline und Carlos Beißringe und Bilderbücher, auf denen sie rumkauen konnten. Mein Platz beim Weihnachtsessen würde leer sein.
»Wenn ich wirklich hopsgehe«, würgte ich schließlich mit belegter Stimme hervor, »dann heirate bitte wieder. Die Kinder brauchen eine Mutter.«
Ich nahm Stefans Hand, deren Knöchel weiß hervortraten.
»Konstanze …« Seine Stimme brach. Ein unkontrolliertes Schluchzen schüttelte seine Schultern.
»Bitte versprich es mir!«
Stefan hob den Blick. Seine Augen schwammen in Tränen.
»Wir schaffen das, Konstanze«, brachte er schließlich mit rauer Stimme hervor. »Du schaffst das. Du
wirst
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