Himmel und Hölle
Fachkenntnisse …«
»Jetzt sofort. Und Sie warten draußen.« Der Professor machte eine Kopfbewegung in Richtung Gang.
Breitner würdigte mich keines Blickes. So als wäre ich gar nicht da. Vielleicht war ich ja auch gar nicht mehr da. Vielleicht war ich schon tot?
Ich saß draußen auf dem Flur, starrte die Wand an und dachte: Wir haben immer noch keine Winterschuhe für die Kinder gekauft. Dabei spürte ich wieder die Kraft einer Löwenmutter in mir aufkeimen. NOCH
war ich nicht gestorben. Vorher würde ich meinen Kindern Winterschuhe kaufen! Und wenn es das Letzte war, was ich auf dieser Welt tat!
Mit letzter Kraft rappelte ich mich auf, schlich zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Ein leichenblasser Stefan lehnte an der Wand, und ich konnte hören, was die beiden sprachen. Das heißt, Stefan sprach ausnahmsweise mal nicht. Der Professor sprach.
Professor Breitner teilte Stefan in knappen Worten mit, dass ich Weihnachten nicht mehr erleben würde, wenn ich nicht sofort operiert würde. Ich müsse sofort hierbleiben, am Montag um acht würde der Eingriff vorgenommen.
»Dann tun Sie das. Bitte, Professor!«, flehte Stefan ihn an. »Retten Sie meine Frau!«
Zum ersten Mal war Stefan einfach nur kleinlaut und ratlos. Seine Stimme brach, er wurde von Schluchzern geschüttelt.
Professor Breitner berührte leicht seinen Arm. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, das verspreche ich Ihnen.« Durch den Türspalt konnte ich sehen, dass Stefans Hosenbeine zitterten, und die Hände von Professor Breitner zitterten auch. Mein Herz raste. So verzweifelt hatte ich Stefan noch nie gesehen. Normalerweise hätte er jetzt vollmundig angekündigt, mindestens noch eine zweite Meinung einholen zu wollen. Doch jetzt waren auch Stefans Reserven verbraucht. Nur mir gegenüber gab er sich noch zuversichtlich und stark.
»Was sollen wir nur tun?« Stefan weinte verzweifelt.
Ich konnte nicht anders. Ich riss die Tür auf und warf mich ihm in die Arme. »Wir schaffen das, Stefan!«, rief ich. »Wir geben nicht auf! Wir halten zusammen! Ich habe es dir versprochen, in guten wie in schlechten Zeiten!«
Der Professor schnäuzte sich. Er nahm sich die Brille von der Nase und putzte sie umständlich mit seinem Kittel, wobei er fast fluchtartig den Raum verließ. Nach etwa zehn Minuten kehrte er allerdings mit einem Stab von Ärzten und Assistenten zurück.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Man teilte mir in knappen medizinischen Worten mit, dass wegen der vorausgegangenen Exstirpation des Zervixkarzinoms, also wegen der Entfernung des Gebärmutterhalskrebses, leider von einem Zusammenhang zwischen den beiden Krankheitsbildern ausgegangen werden müsse. Außerdem brachte man mir sachlich bei, dass die bevorstehende komplizierte Operation das Risiko einer Halbseitenlähmung beinhalte. Ich müsse mir darüber im Klaren sein, dass ich unter Umständen Weihnachten gelähmt wäre. Oder wahlweise tot.
Der Professor räusperte sich und hüstelte in die Krankenakte, die man in fliegender Hast angefertigt hatte. Er sah mich über den Rand seiner Brille hinweg an und setzte seinen betont emotionslosen Vortrag fort. Trotzdem gebe es die realistische Chance, dass ich an Weihnachten nichts von beidem sei. Also weder tot noch gelähmt. Er wischte sich über die Stirn und legte die Krankenakte auf seinen Schreibtisch. Deshalb möge
ich übers Wochenende mal in Ruhe über alles nachdenken. Allerdings hier im Krankenhaus! Nach Hause könne ich natürlich nicht mehr. Nur ausnahmsweise dürfe ich noch kurz in die Innenstadt, um die wichtigsten Dinge für die erste Nacht im Klinikum zu besorgen. Und mich von meinem Mann zu verabschieden, da es … hüstel, räusper … womöglich ein Abschied für immer sei. Der Professor konnte meinem Blick nicht mehr standhalten. Er drehte sich abrupt um und griff nach einigen Unterlagen. »Wenn Sie also bitte den Aufklärungsbogen studieren und unterschreiben.«
Da guckst du.
Wie reizend, dachte ich mit einem Anflug von Zynismus. Mich jetzt schon schonungslos über sämtliche Risiken und Nebenwirkungen aufzuklären. Schlagen Sie Ihren Arzt oder Apotheker! Ich hatte eine Galgenfrist von zweieinhalb Tagen. Im Film besteigen sie noch schnell einen Achttausender. Oder hauen ihre Kohle in Spielkasinos auf den Kopf. Oder aber sie treffen noch ein letztes Mal ihre unehelichen Kinder. Im Film. Doch die Wirklichkeit sah vor, dass ich die letzten beiden Tage dieses Lebens ans Klinikbett gefesselt sein
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