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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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gewesen war. Alles veränderte sich auf der Aufsichtsratssitzung: der Beschluß des Aufsichtsrates, diese Bank in New York doch zu kaufen. Trotz meiner Skepsis. Manhattan Finance Corporation, ein Ungetüm mit fünfzehntausend Mitarbeitern, schlecht positioniert, mit einer alternden, um nicht zu sagen, wegsterbenden Kundenstruktur, kaum profitabel, und wer die Amerikaner kennt, weiß, daß es hinter den polierten Bilanzen verheerend aussehen kann. »Und Sie, Herr Himmelreich, sind der perfekte Mann für die Integration.« (Sievers, unser Aufsichtsratspräsident, hatte die Macht, in einen solchen Satz mehr Gewicht zu legen als andere Leute.) Abreise am nächsten Montag. Der Flug Zürich - New York sei bereits auf meinen Namen gebucht.
    Time to Destination: 5 Hours 50 Minutes.
    Heute ist dieser Montag. Heute befinde ich mich auf diesem Flug, das sehe ich selbst.
    Einen Tag nach der überraschenden Aufsichtsratssitzung - es ist Samstag - treffen wir uns im Hauptgebäude der Universität. Irgendeine Ausstellung zu Ulysses. Eigentlich hätte ich für New York packen sollen, der Abflug schon in zwei Tagen, jemand muß bei Vertragsunterzeichnung vor Ort sein, Präsenz markieren und gleich mit der Integration beginnen, der heikelsten Phase der Akquisition - 90% der Firmenübernahmen scheitern nicht wegen zu hohem Preis, sondern wegen langsamer und miserabel geführter Integration. Aber Josephine hat darauf bestanden, nein, sie hat mich geradezu in diese Ausstellung gezwungen, wahrscheinlich in der Absicht, mir diesen unmöglichen James Joyce doch noch schmackhaft zu machen, und ich vermute, es geht ihr gar nicht mehr so sehr um dieses Buch, sondern um den Beweis der Ansteckungskraft ihrer Begeisterung oder um das Bloßstellen meiner literarischen Anspruchslosigkeit, was mir ehrlich gesagt noch viel lieber ist (ich mache mir wirklich nicht viel aus Romanen, wie oft muß ich es ihr noch sagen). Ein heller, glänzender, blauer Vormittag, Schnee überall, auch auf den Parkbänken, wo er mir am besten gefällt. Ich schlendere durch die leere Eingangshalle der Universität, Hände auf dem Rücken, tagträumend, der Hall meiner Schritte, ab und zu ein Student, Jahrzehnte jünger als ich - Kinder! -, dann wieder das Zerflattern meiner Schritte zwischen den Säulen. Die Wand mit den Anzeigen - Nachhilfe in Statistik für 30 Franken die Stunde; gesucht: Frau für WG im Kreis 6. Ich warte. Ich genieße die Warterei. New York als Rettung vor diesem schönen Irrsinn. Schluß mit der Affäre! Schluß mit den Lügen! Schluß mit der Verstrickung! Es war klar, ich mußte die Affäre beenden. Noch heute. New York, das war mehr als ein Vorwand. New York, das war eine Herausforderung.
    Ich lese Ulysses, den ich soeben als Taschenbuch von einem Büchertisch, der neben dem Eingang zu dieser Ausstellung aufgebaut ist, gekauft habe. Ein neues Exemplar, glänzend und mit dem unwiderstehlichen Geruch von Papierleim. Das heißt, ich lese ihn nicht wirklich, ich fahre bloß mit dem Daumen über das kantig geschnittene Papier, als verlange jedes Buch diese Massage, dieses zärtliche, aber doch schlichtweg materielle Abgreifen der Lektüre. Der Tisch, das ist mir sofort aufgefallen, wird von derselben Buchhandlung betrieben, für die Josephine arbeitet, und somit ist das Mädchen, das ihn betreibt - dieses junge Geschöpf mit dem arglosen, hellen Gesicht und dem quengligen, dunkelblonden Haarschopf, das in aller Lockerheit und scharf an der Grenze zur Professionalität (für die ich über all die Jahre als Manager ein außerordentlich gutes Gespür entwickelt habe) hinter diesem Tisch auf einem Klappstuhl sitzt -, eine ihrer Mitarbeiterinnen. Ich bin froh, jemanden zu haben, der mir Gesellschaft leistet, während ich auf Josephine warte, und ich glaube, ich bin dem Mädchen auch nicht unsympathisch. Ich erfahre: Sie führt diesen improvisierten Ladentisch seit vier Wochen, ein langweiliger Job, da einfach zu wenig los, zu wenig Besucher hier, und wenn, dann sind es Pensionierte, die aus einem reinen Überfluß an Zeit vorbeikommen. Morgen zum Glück der letzte Tag dieser Ausstellung. »Hier, sehen Sie bloß«, dabei hebt sie den Saum des Tischtuchs hoch, als würde sie mir eine intime Stelle offenbaren, »mindestens fünfhundert Exemplare. Die müssen wir am Montag alle wieder ins Lager zurückschicken. Man liest diesen Ulysses heute einfach nicht mehr. Ehrlich gesagt« - das sagt sie leise, aber ohne die Hand vor den Mund zu nehmen - »kann auch ich mit

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