Himmelreich
»Übermorgen fliege ich nach New York - für eine sehr lange Zeit.«
Josephine liest vor, was auf einem anderen Schildchen steht: »Die Themen Exil und Flucht sind prominent in Ulysses vertreten, besonders durch Stephens Gedanken und Kommentare in Anlehnung an die Sage... «
»Josephine«, unterbreche ich.
»... an die Sage von Ikarus und Daedalus. Stephen, eine Verkörperung des Daedalus, des überlegten, planenden, vorsichtigen, aber innovativen Menschen - im Gegensatz zu Ikarus, einer ehrgeizigen Figur mit mangelhafter Selbstbeherrschung, dessen Flügel am Licht und an der Hitze der Sonne schmelzen und der darum abstürzen muß. Joyce zieht eine geschickte Querverbindung zu dem gefallenen Engel Luzifer einerseits, der, wie Ulysses gesamter Text, unfähig ist, geradeaus zu steuern, und zu den sehenden< Engeln andererseits, die in der mittelalterlichen Tradition von Italien bis nach Spanien meist stehend und mit augenübersäten Flügeln... «
»Übermorgen fliege ich«, sage ich noch einmal, und als sie noch immer nicht hören will, fasse ich mit beiden Händen ihren Unterarm, so wie der Tierarzt einen Hund festhält, um ihm eine Spritze zu verpassen.
»Du tust mir weh!«
Ich eröffne es ihr rundheraus, meine Versetzung nach New York, in einem befreiten, erleichterten und gleichzeitig traurigen Ton, der alles zusammenfaßt, was mir in diesem Moment durch den Kopf geht. Draußen stehen die Dächer und Türme im Glitzer, der schmelzende Schnee bedient die ganze Stadt mit einem frischen, schwarzglänzenden Anstrich, die Straßen zittern wie Spiegel, deren Leuchtkraft die Autos einzeln verschluckt, die ersten Segelboote sitzen reglos im See, darüber hinweg treiben vereinzelte Nebelschwaden, und im Himmel weben die Flugzeuge ein Netz von wattigen Kondensstreifen, die als Gesamtheit langsam gegen Norden abdriften. Was die Welt draußen demonstriert, ist die Selbstaufgabe des Winters. Josephine läßt die Neuigkeit mit geschlossenen Augen vorbeiziehen und lehnt sich dann mit den Schultern, dem Hals und dem Hinterkopf an die Fensterscheibe.
»Wie leichtfertig du mit mir umgehst.« Sie sagt es in diesem druckreifen Deutsch, das weder Resignation noch Wut enthält, weder Überraschung noch Strategie. Überhaupt drückt sie alles immer wie eine Tatsache aus - als wären selbst Gefühle Tatsachen.
Ich lasse sie los. »So habe ich es nicht gemeint, das heißt, ich weiß es auch erst seit gestern. Was hätte ich für einen Grund gehabt, dich anzulügen?«
»Denselben, aus dem du deine Frau belügst.«
»Ich werde es ihr sagen, sobald ich in New York bin.«
»Du hast es ihr also noch immer nicht gesagt?«
»Das mit New York natürlich schon.«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Auf einen Tag oder eine Woche kommt's jetzt auch nicht mehr an.«
»Ich glaube dir gar nichts mehr.«
»Und ich kann gar nicht glauben, daß wir diese Auseinandersetzung haben - und dann noch in einer öffentlichen Ausstellung.«
Einen Augenblick lang beißt sie sich auf die Lippe.
»Und deine Frau, geht sie mit?«
»Sie bleibt hier in Zürich. Was soll eine Anwältin mit einem Patent des Kantons Zürich in New York?«
Josephine wendet sich von mir ab, dreht sich um und schaut zum Fenster hinaus. Zum Glück sind wir jetzt allein in dieser Ausstellung, und der Büchertisch mit ihrer Mitarbeiterin ist weit weg, so daß man uns wohl kaum hören kann.
Ich fahre mit der flachen Hand über ihr von der Sonne erhitztes Haar.
»Ich möchte dich gern noch ein letztes Mal sehen«, sage ich, »morgen.«
»Ich glaube nicht, daß ich das möchte«, sagt sie. Josephine hat eine Art. Meine Hände pendeln verlegen im Leeren und wirbeln Staub durch die Luft, der im schräg einfallenden Sonnenlicht sichtbar herumtänzelt.
»Es ist mein Ernst, daß wir uns nicht mehr sehen sollten«, sagt sie nochmals, ihr Blick noch immer auf den Dächern der Stadt.
»Ich weiß.«
Ich versuche, sie zu mir her zu drehen, und als sich das nicht machen läßt, dränge ich mich einfach vor sie hin, vor ihr Gesicht, vor ihre Aussicht: »Jetzt bist du aber dramatisch.«
»Ich bin nicht dramatisch. Du denkst wohl, ich sei ein Schalter, den man einfach so zurückdrehen kann, auf Zimmertemperatur.«
»Ich meine, wir sollten uns morgen wenigstens noch ein letztes Mal sehen. Zum Abschied.«
»Wozu?«
Sie runzelt die Stirn auf eine selbstbewußte, störrische Art.
»Weil es schön ist mit dir. Weil ich gern mit dir schlafe. Weil du klug bist, geistreich, aufregend. Es
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