Himmelreich
aufgestützt wie eine Buddha-Statue, den anderen Arm weit ausgestreckt, das Glas Wein in Reichweite, und beobachtete, wie sie auf dem Sofa saß, vorlesend, das eine Bein angezogen, das andere locker über den Rand des Sofas hängend. Wachsam verfolgte ich, wie sich ihre Lippen bewegten, ihren Gesichtsausdruck, der unweigerlich dem soeben Gelesenen Ausdruck verlieh. Und manchmal schloß ich die Augen, tastete nach dem Weinglas, ließ es am dünnen Stil zwischen Zeigefinger und Daumen drehen und hängte mich an ihre klare, weiche Aussprache wie an einen Zug, der einsam über eine helle, weite Landschaft rollte. Es gab Stellen, die las sie nur für sich, dann war es ganz still im Zimmer, und ab und zu drang das Poltern eines Trams aus einer entfernten Straße in ihre Wohnung hinein.
Sie las aus allem vor. Den Klassikern: Büchner, Grass, Dürrenmatt, Joyce, vor allem Joyce, aber auch aus den Amerikanern, Hawthorne, Faulkner, Bellow, Hemingway, Ozick, Roth. Und sie las aus den Neuen: Houellebecq, Franzen, Updike und wie sie alle heißen.
Walser konnte sie nicht leiden, weil er so kühl schrieb, so berechnend. Jelinek mied sie aus demselben Grund. Dafür ernährte sie sich geradezu von intelligenten, aber hellen und phantastischen Liebesgeschichten. Ich genoß die studentenhafte Atmosphäre unserer Leseabende. Es gefiel mir, mich wie ein Hund auf dem Boden zu räkeln, während ein süßer Wortregen auf mich niederrieselte. Später lagen wir im Bett, und ich fragte mich, ob Josephine nicht das Instrument einer Herrschaft war, der daran gelegen war, das gut gezimmerte Gebäude meiner Welt, das ich in 42 Jahren aufgebaut und laufend modernisiert hatte, still und heimlich in eine zersetzende Säure zu tauchen.
Hinzu kam, daß sie für jede Situation eine passende Stelle aus einem Roman zur Hand hatte. Zum Beispiel, als die Börse keinen guten Tag hatte und ich über die russischen Hedgefund-Traders schimpfte, die wieder einmal dabei waren, das britische Pfund zu attackieren, kam sie mit Grass: »Immer wenn ein Deich bricht, sagt man, es waren Mäuse im Deich.« Für meine Ehe konsultierte sie Gantenbein. Den Beruf meiner Frau setzte sie in direkte Beziehung zu Kafkas Prozeß. Und die Tatsache, daß ich Anna noch nichts über unsere Affäre erzählt hatte, kommentierte sie mit Robert Walser: »Alles Verbotene lebt auf hundertfache Art und Weise.« Josephine war frech, sehr frech, und sie schürfte mit ihren Sätzen immer just am wunden Punkt. Einmal, nach dem Sex, als wir beide erschöpft und eine ganze Armlänge voneinander entfernt auf dem Laken lagen und sie mit ihrem Zeigefinger, als wäre es das einzige noch funktionierende Glied, auf meinem Schädel Kreise drehte, mein Haar an ihrem Finger aufzwirbelte, sagte sie: »Der große biologische Witz ist, daß man miteinander intim ist, bevor man irgend etwas über den anderen weiß. Philip Roth.«
An manchen Abenden bekam jedes Zitat eine so bizarre Bedeutsamkeit, daß ich mich am nächsten Tag zwingen mußte, die Wirklichkeit als das zu nehmen, was sie war. Natürlich sah man mir nichts an. Ich zweifelte ja auch nicht an dem, was ich im Geschäft sah. Und doch wurde ich mir langsam der rebellischen Kraft der Fiktion bewußt. Sie war eine Gefahr für jede geordnete Existenz.
Josephine reichte mir Vorabexemplare weiter, die ihr die Verlage kostenlos zugeschickt und die sie bereits verschlungen hatte. Und manchmal schenkte sie mir die richtigen Hard-Cover-Bücher. Auf meinem Nachttischchen stapelte sich die Weltliteratur. »Seit wann seid ihr denn im Buch-Business?« fragte Anna einmal, während sie vor dem Einschlafen Kommentare an den Rand irgendeines Vertrages kritzelte. Natürlich kam ich nicht dazu, Josephines Bücher zu lesen. Ich kam ja schon nicht über das Management Summary der Marketing-und Strategieberichte hinaus, die sich auf demselben kleinen Nachttischchen den Platz streitig machten.
Dann, plötzlich, veränderte sich alles. Es war wie ein Wetterumschwung. Die Erregtheit, die ich den ganzen Winter hindurch, ja seit dem Literaturanlaß im September für Josephine empfunden hatte, die Unruhe, die Besinnungslosigkeit, die geißelnde Aufregung, wenn ich auch nur einen Augenblick lang an sie dachte, all dies wich einer jähen, gesunden Klarheit. Von einem Moment auf den anderen griff eine Hand von weit oben zu mir herunter, und gleichzeitig streckte ich meine Hand nach jener aus, und mit einem einzigen, angenehmen Zug war ich endlich wieder der, der ich immer
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