Himmelreich
Löffelchen gerade in einer Tasse rührt, eine Festung von einem Mann, dabei jung und mit einem intelligenten Blick, er steht sofort auf, als wir die Tür aufstoßen: »Herr Himmelreich, guten Tag. Sie sind doch Herr Himmelreich?«
Ich nicke, leicht verlegen über meinen Bekanntheitsgrad in dieser eher abgelegenen Region des Organigramms, und stelle vor, ohne einen Augenblick zu zögern: »Meine Frau.«
»Renfer«, sagt er, dabei schließt er, noch bevor er den Arm zur Begrüßung ausstreckt, mit einer äußerst gewandten Bewegung den mittleren Knopf seines Sakkos, »Leiter des Sicherheitsdienstes. Sehr erfreut.«
Natürlich wäre dies an einem normalen Arbeitstag nicht möglich gewesen, mit einem Besucher einfach so in die Sicherheitszentrale zu trampeln. Aber es ist ein Sonntag. Die Monitore zeigen lauter leere Gänge und Hallen, eine leere unterirdische Parkgarage aus verschiedenen Perspektiven, ein Flachdach, wo, außer einer mannshohen Parabolantenne, auch niemand steht, die elektronische Langeweile schlechthin, kaum irgendwo Bewegung, alles schwarzweiß, alles tonlos. Auf dem Weg zurück in mein Büro werde ich das Gefühl nicht los, daß wir beobachtet werden. Es dauert noch eine ganze Weile, bis alles richtig angeschrieben ist, aber ich will dabeisein, bevor die Kisten endgültig zugeklebt sind, sonst gibt es ein Durcheinander beim Auspacken.
»Hast du großen Hunger?« frage ich Josephine, als die Leute die Kisten auf eine Palette stapeln.
Sie sind flink, die Umzugsleute, ich hoffe, in New York werden es ebenso flinke sein. Ich drücke ihnen je ein Trinkgeld in die Hand - hundert Franken. Der Chef der Truppe wünscht mir eine gute Reise, die anderen sprechen kein Deutsch, bedanken sich aber mit einem Nicken. Der Geruch ihrer Ausdünstung in meinem Büro. Im Lift die absteigenden Zahlen. Ein sanftes Rütteln. Wir stehen allein in diesem Lift und vermeiden es, uns in die Augen zu schauen. Josephines Gesicht im Profil.
Draußen ein kalter Märztag, feucht, grau, aber windstill. Hochnebel. Es fällt mir ein, daß ich meine Handschuhe oben vergessen habe. Ich gehe sie nicht holen. Es würde uns Zeit stehlen - unsere letzte Stunde. Wir überqueren die Straße Richtung See, dann Richtung Bellevue. Ich schlage vor: Kronenhalle. Aber sie ist überzeugt, daß dies kein Ort für einen Abschied ist. Am Stand beim Vorderen Sternen bestellen wir je eine Bratwurst, dazu Bier. Es ist angenehm, beim offenen Feuer zu stehen. Die Erinnerung an den Abend im September, Literatur-Party bei Wurst und Brot, damals, als ich sie für eine Journalistin gehalten hatte.
»Vielleicht werde ich dich doch noch entführen.«
Warum ich lache?
Sie besteht darauf, mich einzuladen.
Die Möwen, die entdeckt haben, daß wir Brot essen, und scharf um uns herumkreisen. Sonne in dicker Watte. Ein Schimmer von Sonnenlicht über dem See, weit weg, in Rapperswil oder noch weiter. Ein Kursschiff verläßt den Steg, sonst alles reglos. Der See wie ein ausgestanztes Stück Metall. Die Hügel zu beiden Seiten, die Wälder, gegen oben hin weißgrau wie Schimmelpilz. Schnee oder Reif. Das Kartontellerchen mit Wurst und Senf und dem Brötchen, die Pappbecher mit dem Bier, wir sind froh, glaube ich, keine freie Hand zu haben. Der Quai gehört uns. Es ist, als würde der Nebel alles abdämpfen. Manchmal, wenn wir so dahinschreiten, drehe ich mich um und gehe einige Schritte rückwärts: die Stadt, eigentlich ein verbautes Tal, die Limmat, durch die all dieses Wasser wegfließt, der General-Guisan-Quai, das Opernhaus - etwas zu weltmännisch für diese Stadt, finde ich. Ab und zu eine alte Frau mit Hund oder ein alter Mann mit Baskenmütze und Pfeife. Das Glucksen zwischen den Steinen. Die Bootsvermietung ist geschlossen, die Pedalos liegen aneinandergekettet auf dem Holzsteg. Auf der obersten Holzlatte der Ziehbrücke sitzen Möwen, fünf oder sechs, mit eingezogenen Köpfen, sie sitzen in fast regelmäßigen Abständen. Auf einer Schiefertafel steht die Wassertemperatur des letzten Betriebstages (19 Grad). Es ist kalt und feucht, und nach einer Weile kehren wir um. Kein Tag für einen Spaziergang. Der Geruch von Wurst an den Händen. Alles so wirklich. Josephine schaut auf die Uhr. Sie muß zurück - Zusammenräumen des kleinen Verkaufsstandes an der Uni, sie möchte Raphael und den Rest des Teams nicht zu lange warten lassen. Wir müssen jetzt nur noch den Ort finden, wo man sich trennt. Beim Bellevue bleiben wir stehen. Warten auf die Nummer 4. Die
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