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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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eine Strähne, die es immer wieder schafft, in ihre Stirn zu fallen, es ist immer dieselbe, am liebsten hätte ich sie ihr aus der Stirn gestrichen, aber meine Finger riechen nach Senf. Der Hochnebel, den es in New York nicht geben wird. Ihr Mantel, dieses Geknüpfe aus Fäden. Es gibt nichts zu sagen. Ihre dünnen, geschlossenen Lippen. Eigentlich sieht sie noch immer wie eine Journalistin aus, finde ich, dieses moderne Gesicht. Das Quietschen von Trams in den Kurven. Eine Umtriebigkeit auf diesem Platz, selbst an einem Sonntag, Menschen und Autos und Trams, alles dreht sich im Gegenuhrzeigersinn wie um einen Abfluß herum, in dessen Mitte wir stehen. Dann die Nummer 4. Achselzucken - ich, dann sie, fast gleichzeitig. Beinahe wäre ich zu spät eingestiegen, aber ich trete aufs Trittbrett, so daß sich die Flügeltüren noch einmal öffnen. Sie winkt nicht. Auch ich winke nicht. Ich beobachte bloß, wie hinter der Tramscheibe eine ganze Stadt den perspektivischen Gesetzen gehorcht, wie die Gebäude sich entfalten, aufgehen, blühen, drehen, schrumpfen, einfallen und schließlich schwinden - und mit ihnen, als wär's die normalste Sache der Welt, die Menschen.
    Nein, ich fliege nicht!
    Wirklich nicht!
    Ich fliege nicht! Wie oft muß ich es der Dame am Flugsteig noch erklären, daß eine Bordkarte keine Verpflichtung darstellt, sondern ein Recht, eine Option, zu fliegen oder nicht zu fliegen.
    »Danke«, sage ich und schiebe die Bordkarte über die Theke zurück, »ich fliege nicht.«
    »Wie darf ich das verstehen, Herr Himmelreich?«
    »Ich bleibe hier. In Zürich.«
    »Was heißt, Sie bleiben hier? Die Maschine wartet.. Achselzucken.
    »Sie halten dreihundert Passagiere auf.«
    »Dann lassen Sie die Maschine ziehen.«
    »Wir haben schon jetzt eine Abflugverspätung von fünfzehn Minuten.«
    Was soll ich noch sagen?
    »Dreihundert Passagiere mit Anschlußflügen in New York. Dazu an einem Montag. Verstehen Sie? Sie bringen das ganze System durcheinander.«
    »Ich habe Ihnen gesagt, ohne mich.«
    Ich drehe mich um und mache mich auf den Weg zurück zur Sicherheitskontrolle. Blitzartig wird sie mütterlich, faßt mich am Arm und drängt mich zur Theke zurück.
    »Das haben wir oft, Herr Himmelreich, wissen Sie, Passagiere mit Angst in der letzten Minute. Selbst bei Vielfliegern wie Ihnen. Machen Sie sich da keine Gedanken. Also, bitte.«
    Ich mache mir keine Gedanken.
    Offenbar erwartet sie jetzt, daß ich meine Bordkarte wieder von der Theke nehme, aber meine Hände stecken in den Manteltaschen. Einen Augenblick später beginnt sie, wie versessen auf ihrem Computerterminal herumzutippen. »Hier, falls Sie einen Fensterplatz möchten, ich habe noch einen gefunden, First Class, hier, statt Business Class, ein kostenloses Upgrade für Sie.«
    Ich schiebe ihr auch die First-Class-Bordkarte wieder zu.
    Keine Ahnung, warum ich nicht einfach davonmarschiert bin. Etwas hielt mich zurück. Außer nach New York zu fliegen, hatte ich nichts zu tun. Ich glaube, ich war selbst überrascht über meinen Entschluß in letzter Minute, diese Maschine nicht zu besteigen, es war nicht die Angst vor einem Unglück, so etwas kenne ich nicht, auch keine innere Stimme, meine Reaktion war mir so fremd, als wäre es die eines unbekannten Wesens, ich weiß nicht, was es war, und so blieb ich aus eigener Verwunderung einfach stehen. Um ein Haar wäre ich dann doch noch eingestiegen, aus purem Erbarmen mit ihr. Natürlich tat sie mir leid. Ich konnte mir den Aufwand ausrechnen, den ich verursachte: einen schon im System erfaßten Passagier aus dem Manifest löschen, die an die Destination zu sendenden Daten nochmals eingeben, nicht zu reden von den Informationen an die amerikanische Einreisebehörde, Korrekturmeldung, über ein spezielles System, all das war schon übermittelt. Außerdem war sie hübsch, aber sehr jung, geradezu lieblich, ein drückenswertes, anschmiegsames Püppchen. Sie hatte langes, blondes Haar, das mit einer auffälligen Klammer zusammengehalten wurde. Die zitronengelbe Klammer saß wie ein Schmetterling auf ihrem Hinterkopf und paßte farblich überhaupt nicht zu ihrem Gesicht. Erst als sie mich drängen will, endlich einzusteigen - sie hat schon meinen Trolley in der einen und meine Bordkarte in der anderen Hand und stöckelt voran (als könnte man sich in einem Fingerdock verirren!) -, werde ich unwirsch. Ich packe sie am Arm. Aber sie stöckelt weiter, ohne sich auch nur einen Millimeter umzudrehen.
    »He, Sie!« rufe

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