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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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ich ihr nach.
    Nochmals: »Sie!«
    Vergeblich.
    Ich zerre sie an den Haaren.
    - Das ist mir noch nie passiert, daß ich einer jungen Dame nachrenne und sie an den Haaren ziehe. Dazu noch in einem dunklen Fingerdock.
    »Lassen Sie los, Sie Sauhund!«
    Ich hatte tatsächlich ihr feines Haar in meinen Händen, ich spürte die Strähnen zwischen meinen Fingern, ich konnte es selbst kaum glauben, aber es war wahr, ich brauchte bloß meine Finger zu betrachten: ein ganzer Pferdeschwanz aus blondem Haar. Ich befahl meiner Hand, es loszulassen, die aber packte nur noch stärker zu, und ich hörte, wie die Dame etwas ins Funkgerät schrie, das sie trotz allem grad noch zu bedienen wußte, einen Notruf oder so was Ähnliches. Erst als der Kapitän, aufgeschreckt durch ihr Gezeter, aus dem Cockpit stieg und uns auseinanderriß, ließ sie meinen Trolley los.
    »Sie kommen mir nicht auf diesen Flieger!« schnauzte er mich an.
    »Sehen Sie!« sagte ich zur Gate-Dame und spielte mit ihrer zitronengelben Haarklammer, die ich in meiner Hand fand. Ich weiß nicht, warum ich ihr die Klammer nicht gleich zurückgegeben habe. Sie sah so verwirbelt aus, die junge Ground-Hostess, wild, in einem gewissen Sinn erotisch, dazu neuerdings brillenlos, entgeistert, ich steckte die Klammer in meine Manteltasche, aus purer Verlegenheit, wie man ein Bonbonpapierchen in die Tasche steckt, und riß mit meiner jetzt freien Hand den Trolley an mich. Erst als der Kapitän sich bückte und ihr die Brille reichte, nicht ohne sie zuvor an seiner Krawatte sauberzureiben, wurde ihr klar, was für ein verstrubbeltes Wesen sie darstellen mußte.
    »Die Klammer! Die Haarklammer!« rief sie, die Hände um ihr loses Haar geschlungen. »Meine Klammer!« Als bekäme die Maschine ohne ihre Klammer nie mehr die Starterlaubnis.
    Eine Weile lang gingen der Kapitän und das Mädchen im Fingerdock auf und ab, auf der Suche nach diesem idiotischen Plastikschmetterling. Der Kapitän holte sogar die Taschenlampe aus der Maschine, die nur im Notfall einzusetzen ist, und leuchtete jeden Winkel dieses Korridors aus. Die Verspätung hockte jetzt offenbar in meiner Manteltasche, ein sperriges Plastikteil - ich spürte es in meiner Hand, die harte Spannung in der Feder, ich drückte sie die ganze Zeit auf und zu. Es war lächerlich. Wie unter einem Zwang folgte ich den beiden, wie sie das Fingerdock auf und ab schritten, dabei ließ ich meinen Trolley keine Sekunde aus der Hand (auch nicht die Klammer in der anderen), ich zog ihn die ganze Zeit hinterher, als wär's mein Kind, auf und ab und auf und ab.
    »Ach, hier ist sie«, sagte ich schließlich, als ich etwas abseits in der Hocke saß, und weil die beiden von meiner Entzückung keine Notiz nahmen, sagte ich es noch einmal, diesmal mit etwas mehr Begeisterung: »Hier, die Klammer«, und legte das Plastikteil in die ausgestreckte Hand des Kapitäns, der auch dieses an seiner Krawatte sauberrieb, bevor er es dem Mädchen geradezu feierlich überreichte. Der Flug war endlich startbereit.
    Ohne mich.
    So stand ich also am Flugsteig und schaute zu, wie der Flieger auf das Rollfeld gestoßen wurde. Start der Triebwerke, einen Augenblick lang sich verwirbelnde Rußschwaden, dann vorwärts aus eigener Kraft.
    Auch nach tausend Flügen und mit allem Wissen um die Aerodynamik: Es bleibt die Bewunderung für diese gigantischen Vögel. Ohne das Beispiel der Vögel keine Inspiration zum Fliegen und damit keine Flugindustrie. Ich fragte mich: Welche Tiere fehlen uns heute, ohne die es nie zu einem Industriezweig kommen wird?
    Eine ganze Weile lang schaute ich dem Nieseln zu. Dann Gedonner eines abhebenden Airbus 340, Linkskurve in den verhangenen Himmel hinein. Das wäre meine Maschine gewesen.
    Die Flugsteige leer. Das Hallen meiner Schritte. Keine Menschenseele. Nicht ein einziges Haar auf dem spiegelglatten Boden. Man hätte in diesem Augenblick den Terminal in die Luft sprengen können, ohne jemanden zu verletzen.
    Ich hatte Zeit wie noch nie.
    Ich schlenderte in umgekehrter Richtung durch die Sicherheitskontrolle. Es piepste, auch wenn es jetzt nicht drauf ankam. Vor der Paßkontrolle war ich dann wieder einer, der von irgendwoher eingeflogen sein mußte. Ich hielt den Paß hin, damit ich da bleiben durfte - in Zürich. Zollkontrolle, bei der ich nicht belästigt wurde, und Ankunftshalle, wo niemand auf mich wartete. Ankunft als Schon-immer-Dagewesener. Dasein als Nie-Abgereister. Insofern ein Tag, wie geschenkt. Wie weiter? Ein

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