Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
Vom Netzwerk:
Espresso an der Kaffeebar. Auf einem Bein stehend, das andere locker darum herumgeschlagen und mit der Schuhspitze auf dem Boden aufgestützt, lehnte ich mich an eines jener metallenen Stehtischchen und las die Zeitung, das heißt, ich blätterte bloß darin, ohne auch nur einen einzigen Satz zu lesen, was mir erst auffiel, als ich auf der letzten Seite angelangt war: World Weather, Vorhersage für New York, was mich nicht mehr zu interessieren brauchte. Schon war es Erinnerung: gestern mittag der Spaziergang am See, der Nebel über dem See, die Finger voller Senf, unser Abschied. Ich strich mit der flachen Hand über das Papier, als wollte ich das World Weather vom Tisch wischen. Pose eines Wartenden, der vergessen hat, auf wen er eigentlich wartet.
    Wartete ich auf mich selbst?
    Irgend etwas hielt mich davon ab, in ein Taxi zu steigen. Vielleicht die Angst, daß mir zu Hause keine Erklärung einfallen würde.
    Darum stand ich draußen und beobachtete, wie sich der Verkehrswurm vor dem Terminaleingang vorbeiquälte, darauf bedacht, möglichst rollend Personen und Gepäck auszustoßen. Autowaschanlage Himmel. Ich stand da, während Swissair tot ohne mich nach New York unterwegs war.
    Regenwasser, das zuerst über die Stirn und über die Nase an die Lippen heranfließt, schmeckt anders als Regenwasser, das direkt mit der Zunge aus dem Himmel abgefangen wird. Es gibt Experimente, die fallen einem nur in der Langeweile ein. Ich wage zu behaupten, daß alle großen Erfindungen allein der Langeweile zu verdanken sind, und vermutlich gilt dasselbe für große Literatur. Während ich im Regen stehe, gedankenlos, und mit verschiedenen Mund- und Zungenstellungen versuche, das Wasser aus dem Himmel einzufangen, spritzt plötzlich ein roter VW-Bus an mir vorbei, haarscharf, dann Vollbremsung, Rückwärtsgang wie ein jaulendes Tier, die hintere Tür springt auf, zwei Gestalten schnellen heraus, kommen auf mich zu, Männer in dunklen Mänteln, jetzt nicht mehr rennend, sondern kontrolliert schreitend, dabei stehe ich ganz normal da, etwas verblüfft, aber nicht ohne meinen bekannten Ernst im Gesicht, also ganz so wie immer.
    »Lassen Sie mich los«, sage ich bestimmt, aber höflich, und als das nichts nützt: »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«
    Der Griff an meinen Bizeps schmerzt.
    »Was soll das!«
    »Kommen Sie mit«, sagt der eine in Mundart. Ich denke nicht daran, von der Stelle zu weichen.
    »Sie können mich mal!« Ich sage es mehrmals, zuerst ziemlich laut, aber dann immer leiser, als ich den Asphalt unter meinen Schuhen vorbeiziehen sehe, ich möchte schreien, weiß aber nur, wie man anständig ist, also versuche ich's ironisch: »Meine Herren, Sie wollen mich wohl persönlich nach New York tragen?«
    Die Männer, beide in den Dreißigern, brillenlos, der eine mit Gemsbart, der andere glattrasiert, sind nicht zu erwärmen. Sie schleifen mich zu ihrem VW-Bus und werfen mich kopfvoran hinein.
    Dann das Zuschlagen der Tür.
    »Mein Gepäck! « protestiere ich. »Mein Trolley!« Ich schreie, was sonst nicht meine Art ist, ich tobe, als bräuchte ich die Anzüge mitsamt Krawatten gerade jetzt, ich poltere mit den blanken Fäusten gegen das Blech. Noch einmal werden die Türen aufgerissen, und der Trolley kommt hereingeflogen.
     
    Als ich aufwache, sind wir auf einer Landstraße. Durch das Rückfenster zu sehen: Felder, sanft, grün, hell. Lauter gewellte Landschaft. An den Waldrändern, im Schatten, Reste von Schnee. Die Bäume nackt, hier und da etwas Grün wie ein zaghaftes Flackern, ab und zu ein Traktor auf einem Feld. Vögel als schwarze Punkte darin. Manchmal, in einer Kurve, streift die Sonne mein Gesicht. Dazu Musik - Jazz, Diana Krall vermutlich, so genau kenne ich die Jazz-Szene nicht.
    Der Versuch, mich aufzurichten, scheitert schon an der winzigsten Bewegung. Alles schmerzt. Mit einem Ruck zerre ich mir den Schal vom Hals, schiebe ihn unter den Kopf und versuche mich zu erinnern: Zürich Flughafen, die Schmetterlingsklammer, die New-York-Maschine ohne mich, der Regen, die Paßkontrolle, draußen das Spiel mit dem Regen. Lauter Nonsens. Dabei müßte ich noch heute in New York sein: die Übernahme der amerikanischen Tochtergesellschaft, Manhattan Finance Corporation, fünfzehntausend Mitarbeiter. Statt dessen Straßenschilder auf französisch - deviation, arret, 80 rappel.
    Wer am Steuer sitzt, ist kein Mann, sondern eine Frau. Ihr Haar, das sehe ich genau: schwarz, aber nicht pechschwarz, sondern mit einem Stich

Weitere Kostenlose Bücher