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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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ins Lehmige wie nasse, umgepflügte Erde, schulterlang und an den Spitzen leicht ausschwingend. Keine Ahnung, wo die beiden Typen geblieben sind, jedenfalls zähle ich genau zwei Menschen in diesem Bus - diese Frau und mich.
    »In ein paar Tagen werden sie das Video anschauen und feststellen: eine waschechte Entführung. «
    Dann dreht sie das Radio wieder lauter.
    Dieses perfekte Deutsch.
    »Josephine?«
    »Tut mir leid wegen der Schmerzen. Hättest du nicht wie blöd auf deinem Koffer bestanden...« »Josephine - bist du's?«
    »Wer soll ich denn sonst sein, Dummkopf.«
    Ein Überfluß von Landschaft hinter den Scheiben, Frühling, oder jedenfalls das Aufgeben des Winters, und was ich sonst noch sehe: daß wir in Frankreich sind, daß wir in einem verlotterten Lieferwagen durch die Gegend kurven.
    »Was soll das, verdammt noch mal?« Plötzlich kann ich laut und grob werden, aber es sticht sogleich im Brustkorb, ich verstumme, schlucke, huste, dann leiser, weil gebrochen: »Ich will wissen, was das soll, herrgottnochmal, verstehst du mich?« Ich muß husten.
    Sie bewegt das Lenkrad wie eine Goldwaschpfanne, ihr Blick so, als wäre das Geheimnis dieser Fahrt irgendwo in dieser Pfanne zu finden. Sie sitzt da, summend, und schlenkert ihre Schultern im Takt der Musik.
    Dieser Bambuskörper, denke ich.
    »Hörst du mich? Josephine?«
    Sie dreht am Lautstärkeknopf.
    »Bitte«, sagt sie.
    »Was soll das?«
    »Eine Entführung. Wie bestellt.«
    Dann summt sie wieder. Ich hätte ihr an die Gurgel springen können.
    Geruch von Papierleim. Das Brett, auf dem ich im Laderaum liege - zerkratzt, geschunden, gefoltert, Schrammen vorwiegend in Längsrichtung, ab und zu fällt die Sonne in diese Wunden hinein. Möglich, daß ein Dutzend Holzsplitter in meinem Gesicht stecken. Was ich sonst noch sehe: Bücher, kistenweise Bücher, Bücher in Kartons, einzeln in Plastik eingeschweißt und mit Strichcodes beklebt, ich sehe es erst jetzt, Ulysses, ich kann es nicht glauben und reiße eines auf, und mein Blättern ändert nichts daran, daß es Ulysses ist, dieses unlesbarste aller Bücher, dieser Irrlauf durch Dublin, auch in den übrigen Kartons, fünfhundert Exemplare mindestens, und kein einziges vernünftiges Buch. Fünfhundertmal Rückkehr des Leopold Bloom zu seiner Frau, die ihn betrügt.
    »Ich will, daß du anhältst. Jetzt, sofort, ich will, daß du mich zurück nach Zürich fährst.«
    »Ich will, ich will, ich will...«
    Jetzt summt sie wieder zu dieser Musik. »Entführung - das ist doch lächerlich.«
    »Möchtest du dich nicht neben mich hinsetzen?« Ulysses - ich blättere noch immer darin und schüttle den Kopf.
    »Hör zu, Mädchen« - so hatte ich sie bisher noch nie genannt, Mädchen -, »du fährst mich jetzt sofort zum nächsten Flughafen.«
    »Komm«, sie schlägt mit der Hand auf die kunstlederne Sitzfläche des Beifahrersitzes, so wie man einen Hund zu sich bittet, »dann könntest du mir wenigstens beim Navigieren helfen.«
    Kurze Zeit später sitze ich neben ihr, es ist Abend geworden. Wenn ich tatsächlich mit einer entzückenden jungen Dame hätte verreisen wollen, sei es für eine Woche oder sogar ein bißchen länger, so wäre eine fingierte Geschäftsreise wohl das Naheliegendste gewesen. Naheliegender jedenfalls als eine Entführung. Es wäre mir nicht schwergefallen, einen Grund zu finden, geschäftlich ins Ausland zu verreisen. Ein Business-Trip hätte keine Fragen aufgeworfen - nicht bei meinen Mitarbeitern und schon gar nicht bei Anna -, und sie hätte keine peinlichen Videosequenzen am Flughafen hinterlassen. Wir wären unter verschiedenen Namen abgereist und unter verschiedenen Namen zurückgekehrt, und niemandem wäre es aufgefallen, daß hier eine Affäre ihren ganz normalen Lauf nimmt. Aber ich wollte ja nicht mit Josephine verreisen!
    Ich habe Schluß gemacht, vorgestern in der Ulysses-Ausstellung, unmißverständlich, wie mir scheint, und gestern haben wir voneinander Abschied genommen wie erwachsene Menschen, und somit gab es keinen Grund, mich von ihr verleiten zu lassen. Ich könnte mich schlagen vor Wut, daß ich heute morgen nicht einfach diese Maschine bestiegen habe. Noch immer dieses Stechen im Nacken - überall. Wir haben soeben die Umgehungsstraße von Dijon hinter uns gelassen, Richtung Paris. Der Himmel violett, schleimig, eine Sauce aus Schleierwolken und melancholischen Farben. Hin und wieder eine Zahlstelle. Sie hat keine Euro und muß jedesmal mit Kreditkarte bezahlen. Ich

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