Himmelreich
Morgenreflex, nach einem Bügeleisen zu rufen, wenn der Nadelstreifenanzug zerknittert ist. Ich fühle mich unsauber in zerknitterten Anzügen, ungewaschen, es behindert mein Denken. Und weil es kein Hilton ist, auch kein Hyatt, kein Intercontinental, kein Sofitel und schon gar kein Four Seasons, sondern eine einfache Pension, dauert es eine ganze Weile, bis der Hotelier persönlich ein Bügeleisen samt Bügelbrett aufgetrieben hat. Ich bügle vor einer Frau, was noch nie vorgekommen ist, dazu vor einer Frau, die einfach dasitzt, schweigend, und meinen Bügelkünsten zuschaut.
Kein Frühstück nach 10 Uhr, also fahren wir weiter. Wohin?
Ein richtungsloser, offener, weiter Himmel. Nackte Felder, schwarz, im Sonnenlicht dampfend, ab und zu Gräser, Sprößlinge, Wasser in den Traktorrillen, wie mit einem Pinsel gemalte, blitzende Silberstreifen auf schwarzer Grundierung. Vögel überall, flatternd oder als schwarze Körner in den Feldern. Alleen abseits der Autobahnen, schnurgerade Landstraßen, routes nationales, bei heruntergekurbeltem Fenster das periodische Zurückschmettern unseres Motorengeräuschs, Frühling in den Zweigen, je nach Baumart ausgeprägter oder verhaltener, aber es ist jetzt nicht mehr zu übersehen, der Frühling, er ist da, und mit ihm die weiß explodierenden Kirschbäume wie Sahnetupfer über die Landschaft verstreut.
»Sag mal«, frage ich, während mein Blick über die gewellte Landschaft schweift, »wo sind eigentlich deine Kumpel geblieben?«
»Welche Kumpel?«
»Deine verdammten Helfershelfer, die mir gestern am Flughafen beinahe das Genick gebrochen haben.«
»Du meinst wohl Raphael und Ingo? Die sind zurück im Job. Beliefern die Filialen aus dem Zentrallager.«
»Und unser VW-Bus?«
»Jetzt fehlt halt ein Lieferwagen und die paar Ulysses-Exemplare der Ausstellung. Das wird aber nicht auffallen, Raphael ist der Logistikchef, Ingo sein Lagerist, und die werden das für sich behalten.«
Ich nicke, beeindruckt von Josephines schelmischem Plan, von ihrem, man kann sagen, Entführungsmanagement, ich bin es wirklich, es hat etwas Phantastisches, etwas geradezu Märchenhaftes, plötzlich so unmittelbar aus dem Leben gerissen zu sein.
Normandie. Luft wie Glas. Ich kenne diese Gegend. Der Onkel meines Vaters hatte sein Ferienhaus hier, eines mit Strohdach und einem großzügigen Grundstück; darauf eine kleine Birnbaumkultur, die er allerdings nicht bewirtschaftete - die reifen Birnen plumpsten einfach auf den Boden und zogen Schnecken an. Bauernhöfe und darum herum die unendlichen Rapsfelder, dottergelb, so weit der Blick reichte, Felder, die sich über die sanft geschwungenen Hügel bis zum Horizont ausdehnten, Felder in der Farbe von Blumen, die ich am liebsten gestreichelt hätte. Wir waren jeden Herbst da. Die Straßen waren damals noch nicht asphaltiert, und man zog eine Staubfahne hinter sich her, wenn man durch die Dörfer fuhr. Le Cormier. Ein winziges Nest. Er, jener Onkel, war ausgewandert nach Paris - damals und für seine Verhältnisse ein unerhörter Schritt -, hatte sein Geld in der Filmindustrie gemacht, Handel mit Filmrechten während des Krieges und nach dem Krieg als Produzent von französischen Komödien. Ich konnte ihm als Knirps stundenlang zuhören, wenn er meinem Vater von großen Deals berichtete, ich denke, er war es, der mir den Sinn für das Kommerzielle geöffnet hatte.
Ob wir es finden, das Haus mit dem mächtigen Strohdach? Wir finden es. Das schmiedeeiserne Einfahrtstor, das Dach, die an Drähten gezogenen Birnbäume, die Steine vor den Fenstern, aus denen wilder Mohn schießt, alles noch so wie in meiner Erinnerung. Wir parken mitten in der Einfahrt.
Das Knacksen von Kies unter den Sohlen. Kein Mensch weit und breit. Ich will es einfach noch einmal sehen, dieses Haus, und besonders will ich den Dachstock mit diesem ungeheuer wuchtigen, durch das Alter, die Dämpfe und den Kerzenruß geschwärzten Zentralbalken noch einmal sehen, der sich durch den ganzen Eßraum zieht. Ich möchte mich am liebsten noch einmal im Kniehang an diesen Balken hängen, noch einmal den Rekord brechen für die Dauer, während deren man in der Fledermausstellung an diesem Balken baumeln kann - ich glaube, ich hatte es damals ganze dreißig Minuten ausgehalten, vor den Augen der versammelten Familie, zehn Minuten länger als meine Schwester. Wir klingeln. Keine Antwort. Wir schleichen ums Haus; jetzt stehen wir auf dem Rasen. Durch die Fensterscheiben zu sehen: der Dachstock
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