Himmelreich
von unten, ein langer, dunkler Tisch, Stühle wie aus einer mittelalterlichen Burg, der Rachen des Kamins, ein Schlund, man hätte eine ganze Sau darin braten können. Die Tür zum Garten läßt sich von außen öffnen. Wir treten ein. Drinnen alles wie in einem Museum. Einige seiner alten Schützenorden hängen noch an den Wänden, die schmiedeeisernen Ketten aus dem 19. Jahrhundert über dem Kamin. Alles sehr muffig.
»Zeit für ein Entführer-Video, der perfekte Ort hier«, meint Josephine, gleichsam beflügelt von einer Eingebung des Augenblicks.
Dabei hatte ich gedacht, wir könnten an diesem zweiten Tag den Entführungsklamauk nun lassen.
»Wie erfahren die Leute sonst, daß du entführt worden bist?«
»Müssen sie denn das erfahren?«
»Man wird sich sorgen - die Bank, deine Frau, deine Freunde.«
»Ach, sei nicht albern.«
»Erlaubt dir dein Stolz nicht, Opfer zu spielen? Oder ist es die Vorspiegelung falscher Tatsachen, was dich beschäftigt? Du warst ja in den letzten Monaten auch nicht das wandelnde Pflichtbewußtsein, Herr Banker. Na, komm!«
Josephine in der Regie. Sie weist mich an, mich vor den Kamin zu setzen, Hände auf den Rücken. So ist's gut. Dann hebt sie einige dieser verstaubten, schmiedeeisernen Ketten von den Wänden und legt sie mir quer um den Körper. Ich soll sie hinten zusammenhalten, so daß es von vorne straff aussieht. Ich wage nicht zu fragen, sondern lasse mich von der Gegenwart treiben. Jetzt steht sie vor mir, etwa fünf Armlängen von mir entfernt, breitbeinig, mit verschränkten Armen. Dabei hält sie den Kopf etwas schief. Das Haar in der Stirn. Ihre Augen sind zu neckischen Schlitzen zusammengezogen. Sie prüft. Ihr hohles Kreuz, ihre schrecklich schöne Art, zu stehen. Ich hätte ihr in diesem Moment die Kleider vom Leib reißen können, wenn ich nicht in diesen idiotischen Ketten gelegen hätte, reglos, um die Komposition nicht durcheinanderzubringen. Absurder bin ich mir nur einmal vorgekommen, vor einem Vierteljahrhundert in der Rekrutenschule, als wir plötzlich in diesen unmöglichen Filzuniformen dastanden, ebenso reglos, die Achtungsstellung übend. Und doch fesselt und belustigt mich die Vorstellung von dem, was wir tun, und den Folgen, die unser spielerisches Handeln nach sich ziehen wird; es interessiert mich mindestens ebensosehr wie die Reize, die ich empfinde und beobachte. Jetzt nimmt sie die Kamera.
Klappe: »Liebe Anna, liebe Mitarbeiter der Bank, liebe Freunde. Am Montag, 31. März, um 10 Uhr morgens bin ich auf dem Flughafen Zürich entführt worden. Ich bin in der Gewalt mehrerer Entführer. Wo ich mich zur Zeit befinde, darf ich euch nicht sagen. Was die Entführer mit mir im Sinn haben, ist ebenfalls unklar. Nur soviel: Macht euch keine Sorgen. Ich bin wohlauf, es geht mir gut. Ich kriege zu essen und zu trinken. Ich werde mich, sobald es die Entführer erlauben, wieder bei euch melden.«
»Cut!« ruft Josephine und klatscht in die Hände. »Wie ein Profi.«
Ich darf die Ketten ablegen. Spuren von Rost auf meinem Nadelstreifenanzug.
Das Video stecken wir in einen Umschlag und werfen es in den nächsten Briefkasten, und es verwundert mich, mit welcher Unbekümmertheit, ja Verschlagenheit ich dies alles geschehen lasse, als wäre es geradezu Fingerzeig irgendeiner höheren Macht. Wir fahren weiter. Richtung Süden. Wohin? Ich verweigere mich der Frage. Eine Frage, die auch im Leben belanglos ist. Es geht immer woandershin.
Am nächsten Abend, wir befinden uns gerade auf der N 137 zwischen Rennes und Nantes, taucht plötzlich das Bild eines schwarzen BMWs im Rückspiegel auf. Seine Scheinwerfer wären mir nicht aufgefallen, wenn sie uns nicht wie die Augen eines Raubtiers von Abzweigung zu Abzweigung verfolgt hätten. Auf einer Raststätte -Josephine muß sich ausstrecken, dann auf die Toilette, ich bleibe im Auto sitzen - bemerke ich, wie sie uns nachschleichen, diese Leuchten, und schließlich direkt hinter uns parken.
Was ich im Rückspiegel erkenne: ein Zürcher Nummernschild.
Eine Weile lang bleibt alles ruhig.
Die Silhouette eines Kopfes im diffusen Streulicht. Ab und zu ein Auto auf der Suche nach einem Parkplatz. Sonst ist es still. Der BMW bewegungslos. Eine ganze Weile so. Dann, auf einmal, steigt der Fahrer aus. Ich sehe einen Mann, groß, Bürstenschnitt, aber gepflegt, eine Lawine von Mensch, jung, soweit ich es durch den Rückspiegel beurteilen kann, Anzug, anthrazit oder schwarz, weißes Hemd - im Licht der
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