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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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unauffällig, denn ich möchte unseren Gast nicht irritieren, ich genieße diese Produktion von einheimischen Wörtern, dieses holzige, wärmende Wortgeknister. Gestern beim Einschlafen (es war in der Nähe von Fougeres in der Bretagne) bin ich diese Schweife entlanggefahren - mit den Fingerkuppen, zwischendurch auch mit meiner Zungenspitze -, ich konnte gar nicht genug von diesen wirkungsvollen Augenbrauen kriegen, ich hielt ihren Kopf in meinen Händen, vergrub meine Finger in ihrem Haar, ballte sie zu Fäusten und küßte Josephine auf die Stirn, auf die Stelle, wo sie ihre Stirn, wenn sie nachdenkt, kräuselt, auf die Augenbrauen, die Lider, die Ohren, den Flaum vor dem Ohr, den Haaransatz, den heißen Hals, den Nacken, das Schlüsselbein, die Brüste - dieses Angebot an Formen, Gerüchen, Geschmäcken, Härten und Weichheiten, Temperaturen, Oberflächen wie Zitronenschalen, manchmal, oder wie Nüsse, Palmblätter, Laub, Wasserstrahlen, Moos, Flußsteine, Mehl.
    Plötzlich seine Frage: »Sagen Sie mal, müßten Sie nicht in New York sein? Ich hab so was zwischen Tür und Angel mitgekriegt, daß Sie die Tochterfirma in New York übernehmen würden.«
    »Möchte noch jemand Wein?« frage ich in die Runde, die leere Flasche in der Hand.
    »Ich glaube, es stand sogar auf der Intranet-Homepage. Sie müßten doch in New York sein, nicht wahr, diese, wie heißt sie schon wieder - Manhattan Finance Corporation?«
    Soll ich lügen?
    Ich winke dem Kellner.
    Nochmals: »Kann das sein?«
    Ich bestelle eine vierte Flasche.
    »Urlaub«, sage ich und ziehe mein Jackett aus, es ist wirklich heiß hier drinnen, »vor einer solchen Herausforderung braucht man zuerst mal eine gehörige Portion Erholung, sonst kommt's nicht gut.«
    »Nun hätte ich natürlich nicht gedacht, daß Sie mit einem VW-Bus in den Urlaub fahren.«
    »Meine Tarnung.«
    »Das ist ja witzig von Ihrem Mann«, lacht er zu Josephine rüber.
    »Wir haben es gern romantisch«, sagt Josephine, »wir lieben die Aufregung, das Gefühl, wie Teenager durch die Welt zu flattern, mal hierhin, mal dorthin. Es ist ein Genuß, nicht zu wissen, wann der Motor wieder stockt oder der ganze Bus auseinanderfällt. Sich dem Schicksal überlassen. Andere Leute fesseln sich gegenseitig an die Betten. Wir entführen uns gegenseitig. Sie verstehen: Romantik.«
    Time to Destination: 3 Hours 52 Minutes.
    Nicht schon wieder eine dieser Geschichten, ein Mann und eine jüngere Frau, und die einzige Herausforderung, die darin besteht, das Ganze mit Anstand rückgängig zu machen.
    Ich bin froh, auf diesem Flug nach New York zu sein, glücklich, das Abenteuer mit Josephine hinter mir gelassen zu haben (2499 Miles). Man wird zerebraler auf dieser Höhe. Im übrigen glaube ich nicht, daß Anna von der Affäre erfahren hat. So oft habe ich Josephine nicht gesehen. Und falls Anna es weiß, dann zeugt es von Takt, daß sie nichts gesagt hat (insbesondere weil die Sache seit gestern der Vergangenheit angehört). Was meine Gedanken anbelangt: Ich denke sie, weil ich nicht anders kann. Und ich denke sie, weil ich es mir leisten kann - weil keine Gefahr besteht, daß die Geschichte mit Josephine je weitergehen wird.
    Ich schließe die Augen.
    Keine Ahnung, wie wir auf Andorra gekommen sind. Natürlich war es die Angst, doch noch geschnappt zu werden, mußten wir doch damit rechnen, daß unser Entführervideo mittlerweile die Schweiz erreicht und sämtliche Alarmglocken ausgelöst hatte. Und Renfer, der noch am Abend unseres gemeinsamen Essens die Rückfahrt nach Zürich angetreten hatte, mußte jetzt, nachdem eine Kopie dieses Videos seinen Schreibtisch erreicht hatte, vor Wut platzen. Vermutlich wird ihm dieser Fauxpas sogar den Kopf kosten. Ein roter VW-Bus mit Schweizer Kennzeichen auf einer französischen Autobahn - gibt es Auffälligeres? Wir beschließen: Ab sofort nur noch Landstraßen.
    Tagtäglich gibt es dieses klare Blau, diese flüssigen Morgen mit dem kühlen, schönen Anstrich, diesen Frühling, der sich auf die Felder setzt und es sich gutgehen läßt, der sich in den Baumkronen verfängt und sanft auf die Dächer und Straßen rutscht. Diese blaue Schönheit entschädigt mich für den Zweifel am Sinn unserer Reise und am Inhalt unserer Liebe. Sie zieht die ganze Kette meiner Besorgnis ins Lächerliche. Ich komme mir kaum mehr wie ein Tagedieb vor, im Gegenteil, ich genieße dieses grenzenlose Maß an Sorglosigkeit, wie man ein neues, schönes Haus genießt. Nur manchmal, wenn wir durch

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