Himmelreich
eine Stadt oder ein Industriequartier fahren oder vor einer Ampel anhalten und beobachten, wie Angestellte aus einem Bus quellen und sich ihren Weg über die Straße suchen, kommt es vor, daß mich diese blaue Schönheit verläßt und den rohen, inneren Arbeitswillen aufbrodeln läßt. Es scheint mir dann alles wie ein großer Fehler zu sein. Aber sobald wir aus der Stadt sind und wieder durch das goldene Blau der Landschaft kurven, legen sich meine Befürchtungen, und ich muß über sie lachen, und ich denke mir: Was für ein Narr bin ich all die Jahre über gewesen, mich durch diesen Parcours der Erwartungen hetzen und einengen zu lassen. Diese Fahrt ist wie Medizin - süße Medizin.
Auf einmal stehen die Pyrenäen vor uns.
Zweites Entführervideo, was ich vollkommen idiotisch finde, weil schon im ersten Video alles vorgegaukelt ist, was Josephine hat vorgaukeln wollen. Aber es spielt jetzt keine Rolle mehr, spielen wir das Spiel zu Ende! rufe ich in einem Anflug von Leichtsinn und Ungezogenheit, nein, ich bin nicht betrunken, nur übermütig, verhext, wie so oft in ihrer Anwesenheit. Also zweites Entführervideo. In einem Hotel in Andorra. Wir haben keine rostigen Ketten, die mich fesseln könnten, und so stülpt sich Josephine einen Strumpf über den Kopf, kreuzt meine Arme auf dem Rücken. Sie hat Kraft. Jetzt fällt ihr auf, daß niemand filmt. Sie stellt die Kamera auf den Fernseher, prüft den Winkel. Dann probiert sie's mit einem Stuhl. Der Fenstersims hätte die richtige Höhe, auch der Lichteinfall wäre perfekt, aber im Hintergrund ist die Beschreibung für die Notausgänge des Hotel de Plaza de Andorra< sichtbar. Das wäre ein zu verräterischer Hinweis. Also nochmals Stuhl: Offenbar wollen noch immer nur meine Beine drauf. Also Stuhl, ein Stapel Bücher - Ulysses, etwas anderes haben wir nicht zur Hand -, die Kamera obendrauf. Sie drückt auf Start, stellt sich augenblicklich hinter mich, zieht meine Arme auf dem Rücken zusammen, damit es etwas schmerzhaft aussieht: »Liebe Freunde. Macht euch keine Sorgen. Es geht mir gut - ich habe zu essen, zu trinken, und die Unterbringung ist tadellos. Die Entführer« - dabei zeige ich mit dem Kopf nach hinten zur vermummten Josephine - »verlangen ein Lösegeld, dessen Höhe ihr zu bestimmen habt. Ihr bestimmt, wieviel ich euch wert bin. Und zwar soll es in einer beliebigen Bankfiliale der Banco Espirito Santo in den nächsten vier Tagen in Spanien unter meinem Namen abholbar sein. Gegen Vorweisung meines Passes. Und - bitte keine Dummheiten, keine versteckten Detektive oder so, sonst geht es mir an den Kragen! Bis bald. Macht euch keine Sorgen.«
Zum Schluß verdreht Josephine die Handgelenke auf dem Rücken, bis sie spannen. Ein leichter Schmerz, nicht ohne Lust. Dann steht sie auf und drückt auf Stopp.
»Ich vermisse euch hast du nicht gesagt.« Ich zucke die Schultern.
»Wollen wir nochmals drehen? Du wirkst für meinen Geschmack ein bißchen zu vergnügt.«
»Es geht mir ausgezeichnet.«
»Unsere Entführung verlangt, daß du ernsthaft mitspielst.«
Wir lassen es bei diesem Take. Einwurf in Andorra, Express, in zwei Tagen in der Schweiz, in drei bis vier Tagen sollte das Geld bereitliegen.
Hier oben in Andorra ist der Frühling noch nicht angekommen. Schneereste, und wo der Schnee schmilzt, sind die Straßen naß. Himmel wie Tinte. Gurgeln im Untergrund. Bäche, gesäumt von Weiden, in denen der Frühling hockt und wartet. Straßen voller Schlaglöcher. Das Glucksen und Rauschen, wenn Schmelzwasser Schotter über den Asphalt schiebt - Kies, Steinchen. Das Schmelzwasser höhlt die Straßen aus, jedes Jahr ein bißchen mehr, und man muß auf der Hut sein, daß man nicht plötzlich in einem Schlagloch steckenbleibt. Wir sind der gesamte Verkehr. An den Hängen Skilifte, alte Tellerlifte mit verspeichten Antriebsrädern, vermutlich seit Jahren nicht mehr im Einsatz. Einmal ein Lift, dessen Seil im Geröll hängt. Schlüsselblumen im Gelände, ganze Schlüsselblumenteppiche. Die ersten Schmetterlinge. Auch Vögel - die hört man mehr, als daß man sie sieht. Hier oben soll es die älteste Kirche Europas geben. Neuntes Jahrhundert. Frühromanik. Josephine hat gemeint, der Weg zu dieser Kirche sei ausgeschildert wie der Weg nach Rom. Statt dessen kurven wir stundenlang von Ortschaft zu Ortschaft, Kirchen überall, auch alte, aber keine, die Josephines Vorstellung entspricht. Also zurück nach Andorra La Vella. Im Tourist Office, einem mit grauen
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