Himmelreich
über ein sonst artiges Leben. Komm, laß uns weiterfahren.«
Ich nehme sie am Arm. Aber sie dreht sich, eine halbe Pirouette, so daß ich sie verliere.
»Selbst deine Frau tut mir auf einmal leid. Ich weiß nicht, es ist so dumm, was mir alles durch den Kopf geht.«
»Josephine, jetzt nicht sentimental werden.«
»Und New York - müßtest du nicht in New York sein?«
»Vergiß New York. Vergiß meine Frau. Vergiß diese ganze, blöde, kümmerliche, idiotische Wirklichkeit. Wir sind hier, in Andorra, auf einer Fahrt quer durch Europa, du und ich, wir sind glücklich, jawohl, das einzige, was zählt.«
»Und die Konsequenzen, ich meine, die Zukunft?«
»Seit wann kümmert dich die Zukunft? Kümmern wir uns später um die Zukunft.«
»Psst, nicht so laut.« Sie legt ihren Zeigefinger an meine Lippen, ihre Arme streifen um meinen Nacken, dann über meine Brust, und plötzlich liegt sie in meinen Armen, und wir tanzen - wir tanzen einen Tango, ich kann nicht verstehen, wie es dazu gekommen ist, aber ich höre die Melodie, Yo Te Canto Buenos Aires, ich höre sie ganz deutlich, und wir improvisieren die Schritte, ich habe den Tango nie gelernt, aber die Schritte sind da, wenn auch etwas übertrieben, ausschweifend, üppig, wir huschen, wir schweben, alles leicht und übermütig, das Hauptschiff entlang nach vorn zum Altar - Yo Te Canto Buenos Aires. Die Bilder, Szenen der Taufe Christi, die Seitenkapellen, ein goldverkleidetes Epitaph, der Lichterteppich der Kerzen, Golgatha, der Sarkophag irgendeines Königs, die Bänke, das Chorgestühl, der Taufstein, die Treppen hinab zur Krypta, alles schwankt und dreht sich um uns herum, die in Ruß gebadeten Statuen, die Engel, Löwen, Stiere und Adler der Evangelisten flattern und sausen, törichte Jungfrauen ziehen nackt durch das Mittelschiff, Engel mit Fanfaren stimmen in den Tango ein, trompeten von der hohen Kanzel herab, Tote steigen aus den Gräbern und wenden ihre Gesichter, alles dreht sich, das große Rosettenfenster dreht sich, rotiert wie ein Glücksrad. Auf einmal windet sie sich aus meinen Armen und wird zu Stein: »Du, ich muß nachdenken.« Und in dem Moment ist die Melodie verstummt, die ich, so fällt mir auf, soeben noch gesummt habe, aber auch die Heiligen sind weg, weg sind die fliegenden Engel, weg die Fanfarenstöße, weg die Jungfrauen. Nur noch Josephine und ich und die im Lichtkegel tanzenden Staubpartikel vor dem dunklen Seitenschiff, alles sehr merkwürdig - das Licht, die Stille, unser Atem.
»Josephine, wohin gehst du?« Der Hall meiner Frage schwirrt noch eine ganze Weile durch die Kirche, während Josephine allein im Beichtstuhl verschwindet. Von ihr sind nur noch die Stiefel zu sehen, es könnten ebensogut leere Stiefel sein, die so reglos unter dem Saum des Vorhangs zu sehen sind.
Ich setze mich draußen auf die Kirchentreppe. Ein später Nachmittag, die Sonne wartet tief über einem Bergkamm, der Dorfplatz menschenleer, Überreste von Schnee, einen dunklen Fleck veranstaltend, der mit zunehmender Neigung des Platzes ein Rinnsal abgibt, ab und zu das Geknatter eines Motorrads, in gleichmäßiger Wiederholung die Abdrücke der nassen Stelle des Reifens auf dem Asphalt, es ist warm, Frühlingswärme, es muß ein Sonntag sein, so still ist es, ich habe den Überblick über die Tage verloren. Nach einer Weile stehe ich auf, strecke mich in den Sonnenschein hinein, eine ganze Weile lang, genüßlich und mit jeder Faser meines Körpers, wische mir den Straßenstaub von der Hose, dann schlüpfe ich durch das Portal in das dunkle Innere der Kirche zurück. Es gibt keinen Grund, ungeduldig zu werden. Die Reliquien, unter anderem ein Haar des heiligen Antonius, die Gräber von kirchlichen Würdenträgern anno neunhundert, die Votivbilder einer Seitenkapelle mit seltsamen Tieren und farbigen Drachen und vor allem den Engeln mit den Augenübersäten Flügeln (»the feathers full of eyes«), die, so behauptet der Tourist Guide in meiner Hosentasche, in ganz Katalonien zu finden sind - alles sehr interessant, aber nicht genug Stoff, um den Rest eines Nachmittags zu füllen. Die Architektur: ein nicht unsympathisches Patchwork von diversen Stilrichtungen. Ich kann es nicht lassen und schlendere am Beichtstuhl vorbei. Ihre Stiefel hinter dem Vorhang. Warten in der Dunkelheit. Dabei gibt es, wie gesagt, keinen Grund, ungeduldig zu werden, eine Reise ohne Ziel, aus reiner Lust, kein Geschäftstermin, keine Aufsichtsratssitzung, keine Restrukturierung,
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