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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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beste Flasche, die wir finden, einen fünfzehnjährigen Bordeaux Grand Cru. Wir feiern unser zukünftiges Verhungern. Keine Ahnung, warum es mir nichts ausmacht: Seit wir auf See sind, eigentlich seit sie mich entführt hat, fühle ich mich in einem phantastischen Sinn sorglos. Ich rette die Dose aus dem Abfallkübel und schlecke die letzten hängengebliebenen Stückchen Thunfisch mit der Zunge aus.
    Man weiß allgemein: Die Ozeane sind voller Fische. Es ist wie das Wissen, daß die Sonne ihre Energie aus Wasserstoffatomen bezieht - ohne Technik unnütz. Wir sitzen auf Deck, füllen die zum Aschenbecher umgebaute Thunfischdose mit Kippen, und ich gebe zu: Ich habe noch nie gefischt. Glucksen. Josephine einmal vor zwanzig Jahren im Schwarzwald mit ihrem Großvater - Forellenfischen aus den Bächen. Es gibt nichts zu lachen. Wir rauchen beide.
    Aus Filmen bekannt: Wurm an den Haken, rauswerfen, warten, bis das Zäpfchen schaukelt, dann einrollen. Am nächsten Morgen versuchen wir es, aber wir finden weder Würmer noch Zäpfchen an Bord. Was wir an Ausrüstung finden: zwei Aluminiumruten, ein Hakenset, Rollen, Nylonseile in verschiedenen Dicken auf verschiedenen Spulen. Als Köder verwenden wir Hähnchenknochen, Zwiebelschalen, Spinat, Gurken, Nudeln, dann tiefgefrorenes Gemüse, Butterrollen und Cashewnüsse. Wir experimentieren mit Korkzapfen, Eierschalen und Banknoten. Wir durchstöbern den ganzen Abfall. Nichts beißt an. Nach drei Tagen sind wir so schwach, so mutlos, so hoffnungsverlassen, daß wir nur noch auf Deck liegen und uns möglichst wenig bewegen, um nicht unnötig Energie zu verbrennen.
    »Kehren wir um«, schlage ich vor, »dann haben wir wenigstens noch eine winzige Chance, lebend aus dieser Odyssee herauszukommen.«
    Josephine schüttelt bloß den Kopf.
    »Was schlägst du denn vor?« frage ich.
    »Weiß auch nicht - weitersegeln.«
    »Aber das ist doch keine Perspektive, ich meine, da erwarten uns noch Monate auf dem Ozean, Monate der Einöde. Da erwartet uns der Tod. Wir werden sterben.«
    »Werden wir nicht.«
    Ich hätte sie über Bord werfen können für ihren Mangel an Einsicht.
    Ich bin für Umkehren, wie gesagt, aber ich wage es nicht, das Steuer herumzureißen. Der Wind weht gerade so schön von Osten her wie seit Tagen nicht mehr, wir kommen vorwärts, mindestens sechs Knoten pro Stunde, ein gleichmäßiger Luftstrom treibt uns tiefer und tiefer auf den Ozean hinaus, alles so flott, ein Genuß, zuzusehen, wie wir Wellenbuckel um Wellenbuckel durchpflügen.
    Die Leine im Wasser. Ab und zu hole ich sie ein, um nachzusehen, ob sich nicht vielleicht ein Fisch ganz absichtlich an die Angel gehängt hat, zwecks Selbstmord. Warten auf ein Wunder. Wenn wir nur einen einzigen winzigen, frischen, blutenden Fisch als Köder hätten! Wir ernähren uns von Wein und Vitamintabletten.
    Es gehört zu Josephines Geheimnis, daß sie einzelnen Momenten nicht viel Bedeutung schenkt. Momente - egal wie schön oder schrecklich - sind für sie bloße Durchgangstöne einer Melodie, die zum Ganzen sehr wenig beitragen. Keine einzelne Situation kann für sich in Anspruch nehmen, mehr als ein zufälliger Ruck zu sein, der bald durch einen entgegengesetzten Stoß des Schicksals ausgeglichen wird. Das Leben in der Abfolge seiner Momente gleicht der Brownschen Bewegung, und über allem herrscht der ewige Glanz einer Blütezeit. So gesehen ist unser Verhungern weißes Rauschen, eine bestenfalls vernachlässigbare Störung der großen Abläufe.
    Am fünften Tag ohne Konserven habe ich die Nase voll.
    Ich bitte Josephine, mir den kleinen Finger abzuschneiden. Ich lege alles bereit: das Schneidebrettchen aus der Küche, eine Menge Tücher, sterilen Verbandstoff, das Schweizer Taschenmesser, das ich vorher ebenfalls mit Steril-Serum abgerieben habe, einen Hammer. Ich bitte Josephine, mir den Oberarm abzubinden zwecks Rückstau des Blutes. Es ist mein Ernst.
    Josephine wie eine Krankenschwester. Auch das hinterste Glied des linken kleinen Fingers schnürt sie mir ab; sicherheitshalber. Jetzt liegt er da, mein Finger, seitlich abgespreizt auf dem Schneidebrettchen, die Guillotine erwartend.
    »Los. Halte die Klinge über den Finger, hier, direkt über dem ersten Knöchel, und schlag mit dem Hammer drauf. Ein einziger richtiger Schlag genügt.«
    Die scharfe Klinge auf meiner Haut.
    »Ein richtiger Schlag, und bitte ganz durch«, befehle ich, überrascht, wie sachlich, selbstverständlich, ja routiniert ich an die Sache rangehe.

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