Himmelreich
Ich kneife die Augen zu und versuche mir vorzustellen, wie es sich anfühlen wird, ein feuriger, stechender Schmerz, ein gnadenloser Stich durch den ganzen Körper.
Ich atme kaum.
»-«
»Ich kann nicht!« - Josephine läßt den Hammer fallen.
»Los! Das ist unsere letzte Hoffnung. Ich will, daß du das machst. Jetzt.«
Als ich aufgewacht bin, liege ich auf dem Kajütenboden, mein Kopf in ein Kissen gebettet.
»Das hat richtig gespritzt.«
Ich verstehe kaum etwas. Das Licht der Kajüte - gelblich, durch die vielen Holztürchen bräunlich -, der Geruch - muffig, stets dieser Restmief von Butangas -, das Rauschen der Fahrtwellen am Schiffsrumpf - alles vermischt sich zu einem einschläfernden Cocktail. »Richtig gespritzt hat es.«
»Warum Fisch?« Ich verstehe nichts.
Langsam komme ich zur Besinnung.
Josephine fährt mit einem nassen Tuch über meine Stirn. Meine Hand schmerzt kaum. Erst als ich den Finger, den es nicht mehr gibt, bewegen will, sticht es. Ansonsten ein blödes Kribbeln.
»Hier, Fisch«, triumphiert sie und hält einen mehrpfündigen Marlin am Schwanzteil in die Luft. »Dein Finger muß irgendwo in diesem Magen stecken.«
Sie bereitet ein Festessen, gegrillte Marlin-Filets an Zitronensauce - a discretion.
Anderntags ziehen wir einen Mahi-Mahi, einen Schwertfisch und drei Groupers heraus. Die Köpfe schlagen wir ab, hängen sie als Köder an die Leine. An den folgenden Tagen fischen wir mehr, als wir in einem Jahr verzehren können.
Schon nach einer Woche ist meine Hand verheilt.
Trotz des fehlenden Fingers: glücklich wie noch nie.
Josephine erscheint mir in diesen Wochen und Monaten als das Schlichtweg perfekte Geschöpf, der Inbegriff eines vollendeten Lebens, so daß irgend etwas vollkommen Unwichtiges genügt - zum Beispiel, wenn sie sich bückt, um einen heruntergefallenen Korkenzieher vom Boden aufzuheben, oder wenn sie unter den Tisch kriecht, um den Hauptschalter für das Butangas auf- oder zuzudrehen, wenn sie ein Türchen öffnet, um die Pfeffermühle zu entnehmen, oder ein Türchen schließt, wenn ich ihre Rückenlinie, ihre Schulterblätter, ihr Becken oder das weiche Schwingen ihrer Brüste sehe -, um mir den Verstand zu rauben. Alles, was sie zufällig oder auch nicht zufällig tut, ihre ganze Präsenz, ist mir im höchsten Grad willkommen.
Sie hat Wein entdeckt. Einen ganzen Weinkeller, mindestens fünfzig Flaschen - Wein, den wir nicht gestohlen haben, beziehungsweise zusammen mit dem Schiff gestohlen haben. Beim Aufstehen ist ihr der Ring auf den Boden gefallen und nach einigem Hinundherkullern in einer metallenen Vertiefung liegengeblieben. Als sie ihn mit dem Finger herauskramt, fällt ihr auf, daß dies die Öffnung zu einer eingelassenen Luke ist. Josephine kommt mit zwei Flaschen hoch, in jeder Hand eine. Wir jubeln, beglückt von soviel Ausnahme. Just als das Trinkwasser zur Neige geht: Wein. Ein ganzer Kiel voll. »Save water, drink wine« - wir singen es die ganze Nacht hindurch.
Hoffnung, daß wir die Karibik verpassen. Nie mehr Land in Sicht. Altwerden auf hoher See. Krankwerden auf hoher See. Sterben auf hoher See. Kremation: Sich den Haien übergeben statt dem Feuer.
Unterbrechung des Musikprogramms. Geflimmer auf dem Bildschirm. Der Captain meldet: Kontinent erreicht.
Momentan auf zehn Kilometer Höhe über St. Johns. Neufundland. Die weitere Route wie immer: Labradorstrom, Halifax, Bangor, Portland, New York, man kennt sie wie den Weg vom Schlafzimmer zur Toilette. Von hier oben aus gesehen alles weiß. Die Sonne, nicht mehr als ein Punkt im sonst makellosen Himmel. Lange Schatten. Landschaft wie ineinandergeschobene Styroporplatten. Gelegentlich Konturen von Seen oder Buchten, schattenlos. Kein Puder. Alles eher wie grundierte Leinwand. Ringsherum Erhebungen, mutlos, karg, dann wieder ausgestanzte Flächen, topfeben. Glimmer nur dort, wo die Sonne im tiefen Winkel zurückgeworfen wird. Ab und zu das Geschlängel eines Flusses, vereist und eingeschneit wie der Rest der Erdoberfläche, wie glatte, graue, gummige Silikonfugen, in die hinein man mit den Fingernägeln stechen könnte oder die man herauszerren könnte aus der Landschaft, kilometerweise. Das unendliche Spiel zwischen Weiß und Schatten und Licht und der Schwärze des Himmels. Keine Wolken, nur manchmal ein Schleier, ein tief liegender Schleier wie Dampf von flüssigem Stickstoff, in den hinein die Sonne in scheuen Regenbogenfarben einen exakten Kreis zeichnet, der in Reisefluggeschwindigkeit
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